Alex68 hat geschrieben: ↑20. Sep 2022, 14:12
Das war auch meine Intention, dass bei einer frühzeitigen Versorgung das Hörvermögen mit HG dann auch noch in vielen Jahren Richtung 100% bleibt.
Ja, nein, das ist nicht so.
Die Empfehlung, frühzeitig mit Hörgeräten anzufangen, beruht viel mehr darauf, die Umgewöhnung in der Wahrnehmung so gering wie möglich zu halten.
Beispiel: Hildegard Müller (94) geht zum Akustiker, weil ihr Hörgeräte verschrieben wurden. Sie hat beidseits einen hochgradigen Hörverlust und ihre Angehörigen können sich schon seit Jahren nur noch durch Geschrei mit ihr verständigen. Für Hildegard ist die Welt schon 10 Jahre oder länger sehr still und nur laute Geräusche hört sie noch.
Jetzt kommt der gutmütige Hörakustiker und passt Hildegard Hörgeräte an. Um den Hörverlust bestmöglich auszugleichen, braucht es schon ordentlich Verstärkung auf den Ohren. Aber, oh je, Hildegards ruhige Welt gerät aus allen Fugen. Sie hört plötzlich wieder jedes Papierknistern, jedes Fußbodenknarzen, jedes Tellerklappern, die tickende Wanduhr und vieles mehr... ganz zu schweigen, wenn sie aus dem Haus geht: Wind, Autos, lachende Eltern, schreiende Kinder. Hildegard ist völlig überfordert und will am liebsten keine Hörgeräte mehr tragen. Der einzige Weg zum besseren Hören ist in diesem Fall, wenn man die Verstärkungseinstellung zunächst auf ein gerade erträgliches Niveau reduziert. Das hat allerdings zur Folge, dass die Hörverbesserung nur minimal ist. Hildegard hat also die Wahl -- entweder mehr hören und besser verstehen, dafür Chaos im Kopf, oder weniger hören und schlechter verstehen, damit es nicht so schlimm ist. Beides ist nicht optimal, daher wird es eher schwierig mit einer erfolgreichen Versorgung und bedarf viel Zeit und Kraft, die Hörgeräte letztlich zu akzeptieren und damit deutlich besser zu hören.
Was die Situation kompliziert macht, ist die Natur der Wahrnehmung im Kopf: Was lange nicht gehört wurde, wird verlernt. Jedes Geräusch, jede Stimme (auch die eigene!), alles ist bei einer neuen Hörgeräteversorgung neu fürs Gehirn und muss trainiert werden. Schlimmer, alles, was ungewohnt ist, ist für das Gehirn "wichtig" und drängt sich aktiv in den Fokus der Wahrnehmung. Unser eingebauter Wahrnehmungsfilter muss erst trainiert/angelernt werden. Je früher man anfängt, desto bekannter sind die Klänge und desto leichter fällt die Umgewöhnung. Der Idealfall ist ein gering- bis mittelgradiger Hochtonhörverlust. Bei dieser Art von Hörverlust merken die Betroffenen nach einer Hörgeräteanpassung kaum, dass etwas anders ist. Erst wenn man die Hörgeräte herausnimmt, wird alles wieder dumpf. Hörgeräte rein -- alles wieder hell und klar, ohne dass viele ungewohnte Klänge den Kopf belasten. Genau an diesem Punkt sollte man anfangen.
Bei gering- bis mittelgradigen Schwerhörigkeiten wird sich das Gehör nicht mehr oder weniger schnell verschlechtern, ob mit oder ohne Hörgeräte. Mit Hörgeräten vermeidet man die soziale Isolation, verringert die Höranstrengung (und peinliche Situationen) und macht es sich später leichter, wenn das Gehör im Alter zunehmend schwächer wird.
So viel wollte ich eigentlich gar nicht schreiben.