Hallo Atson!
#9 hat geschrieben:Von den Lippen absehen kann ich übrigens trotz meiner zig Jahre "Karriere" eigentlich überhaupt nicht. Habt Ihr das irgendwann mal bewusst gelernt oder kam das von allein? Meine Mutter, inzwischen 80 und ebenfalls schon als Kind schwerhörig gewesen, konnte das schon "immer". Hat mich als Kind fasziniert, dass sie damals ohne Hörgeräte (wir sprechen von den 1970ern in der ehem. DDR) praktisch nichts verstanden hat aber irgendwelchen Leuten auf Distanz von den Lippen ablesen konnte, worüber die sich unterhielten (Wartezimmer beim Arzt, im Bus usw.).
Wie bei Deiner Mutter wäre meine Geschichte so in etwa, was von den Lippen absehen betrifft. Ich habe das von klein auf zuerst instinktiv gelernt, also alle Wahrnehmungssinne eingesetzt, um "die" Umgebung erfassen zu können - je nach Situation, wurden mal die einen mal die anderen Sinne unterschiedlich strapaziert. Zum Beispiel:
- Je dunkler war es um mich, desto weniger halfen mir die Augen, aber gleichzeitig um so mehr musste ich mein schwächeres Gehör anstrengen (also mich noch mehr konzentrieren, um das Gehörte besser zu analysieren). Irgendwann war mir bewusst, dass "Dunkelheit" ein Störfaktor ist.
- Oder wenn es auch hell genug war, aber windig und gleichzeitig kein Gesichtskontakt, konnte ich je nachdem mich aufs Absehen verlassen oder mich wieder auf schwaches Gehör konzentrieren (bei mehreren Sprechenden war noch komplizierter, sodass ich beides abwechselnd oder kombinierend anwendete). Irgendwann war mir bewusst, dass auch "Helligkeit" nicht immer ausreicht, um von den Lippen absehen zu "können".
Das sind nur ein paar Situationen (zwar "oberflächlich" beschrieben), aber diese sollen Dir ungefähr nachzuvollziehen geben, wie in etwa das-von-den-Lippen-Absehen zum Teil "von allein kam" (also
zu erst nur instinktiv) und zum Teil "bewusst gelernt" wurde (also
"später" auch zusätzlich absichtlich).
Je nach momentaner Verfassung und "der" bisherigen Erfahrungen wird entweder mehr das Instinktive und weniger das Bewusste angewendet oder umgekehrt - aber in jedem Fall immer Beides zusammen, bloß stets unterschiedlich. Je älter - und noch "jung" genug - und erfahrener man wird, desto mehr wird der Anteil des Bewussten zu- und des Instinktiven abnehmen (aber wegen "dem" jeweiligen Gesundheitszustand werden diese trotzdem andauernd schwanken).
Man müsste also nur "die" Zusammenhänge kennen und verstehen, um Deine Frage zu beantworten - und dann wäre auch die Frage nach dem eigentlichen
irgendwann "nie" mehr relevant (weil ohnehin subjektiv).
Ansonsten:
Als Buch zum Thema würde ich "Taube Nuss: Nichtgehörtes aus dem Leben eines Schwerhörigen" empfehlen (nur als Beispiel).
Schöne Grüße,
Sergej