Rat und Tat

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Akustik Alex
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Rat und Tat

#1

Beitrag von Akustik Alex »

Hallo liebe Community,

ich freue mich hier im Forum aktiv zu werden und jedem der mag mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Zu meiner Person: Ich bin Alex, Anfang 30, bin Hörgeräteakustiker und habe Tontechnik studiert. Ich bin seit 11 Jahren (inklusive Ausbildung) in diesem Beruf aktiv gewesen und habe sowohl im verkürzten Versorgungsweg, als auch bei traditionellen Unternehmen und kleinen sowie großen Filialisten gearbeitet.
Den wirtschaftlichen Aspekt habe ich als Filialleiter und weiteren administrativen Tätigkeiten kennengelernt. Ich war bei der Lagerverwaltung, im Einkauf und bei Preisgestaltungen beteiligt. Zusätzlich bin ich QM-Beauftragter und habe auch hier in manchen Unternehmen das Qualitätsmanagement grundlegend überarbeitet und/oder gepflegt.
Last but not least habe ich bisher drei Facharbeiten zum Thema Fehlhörigkeiten, Audiologie und Hörgerätetechniken verfasst und zwei davon auch publiziert.

Ich hoffe der kleine Lebenslauf ist als Vorstellung erstmal ausreichend. Ich freue mich auf den Kontakt mit euch, auf viele spannende Geschichten und hoffe, dass ich den ein oder anderen Unterstützen kann.

Beste Grüße und bleibt gesund!
Alex
akopti
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Re: Rat und Tat

#2

Beitrag von akopti »

Herzlich willkommen.

Gruss

Dirk
Johannes B.
Beiträge: 2345
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Re: Rat und Tat

#3

Beitrag von Johannes B. »

moin Alex,
ich freue mich sehr, dein Angebot hier lesen zu können und habe da direkt einige Fragen an dich bzgl. der Hauptproblematik der meisten Hörbeeinträchtigten, die ich kenne.
Die meisten, die ich kenne, die leiden - bei leichter bis mittlerer Schallempfindungsschwerhörigkeit - hauptsächlich darunter, dass sie bei Nebengeräuschen, im Hall, in Meetings, Vorträgen und Restaurants schlecht verstehen.
Meine konkreten Fragen lauten daher:
1.
was muss ein Hörsystem können, um explizit DIESE Herausforderung meistern zu können?
2.
welche Tests sind am geeignetsten um die DIESBEZÜGLICHE Verstehverbesserung objektiv messen zu können?
3.
was muss der HGA können, um die DIESBEZÜGLICH individuell geeignetste Konfiguration hinzubekommen?

Ich betone deshalb das "diesbezüglich" so besonders, weil alle anderen Hörverbesserungen keinesfalls in Frage stehen.

Danke schön, für deine - diesbezüglich - helfenden Hinweise. 😉

LG
Johns
"8samkeit ist praktizierte Hörhilfe" :sm(89):
Akustik Alex
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Re: Rat und Tat

#4

Beitrag von Akustik Alex »

Hallo Johns,

danke für die Willkommensgrüße, auch an Dirk natürlich!
Folgend zu deinen Fragen:

1.
was muss ein Hörsystem können, um explizit DIESE Herausforderung meistern zu können?


Das ist, wie so oft, eine sehr individuelle Frage. Ich werde mal ein paar Stichpunkte anreißen. Bevor man zur Auswahl der Technik übergeht, müsste natürlich erstmal eine konkrete Messung und Anamnese des Status quo vorliegen. Gehen wir mal von der mittleren Schallleitungsfehlhörigkeit aus und (aufgrund der genannten Meetings) einem mitte 50-Jährigen, der noch berufstätig ist. In dem Fall würde ich dem Betroffenen mal keine Defizite bei der kognitiven Verarbeitung unterstellen, es sei denn, die Fehlhörigkeit ist lange unentdeckt gewesen. Also erstmal wichtig: Was kann mein Ohr/Kopf selbst noch leisten. Anschließend ist natürlich die spezielle Hörsituation wichtig. Wie groß ist der Raum, wieviele Personen treffen zusammen, gibt es andere Geräusche wie Musik, Gespräche anderer, hörbaren Verkehrslärm etc.
Grundlegend sollte das Hörsystem (und das tun prinzipiell alle) Sprache und Störlärm trennen. Im Regelfall geschieht das erstmal durch einen sogenannten "Wiener Filer". Der "spaltet" quasi beides wie an einer Weiche auf und bearbeitet es getrennt. Störgeräusche werden reduziert (meist justierbar von ca. -3dB bis -9db) und hebt Sprache an. Der Zweite Punkt ist das Richtmikrofon, welches den Sprecher fokussieren kann. Entweder in Blickrichtung oder adaptiv in Blickrichtung (Sprecher wird innerhalb des Richtwinkels "verfolgt"). Beides hat Vor- und Nachteile. Denken wir hier mal an eine/n Lehrer/in oder Taxifahrer/in. Mit dieser Funktion wäre rück- und seitwärtig kein verbessertes Sprachverstehen gegeben. Dennoch trennt das Hörsystem so räumlich Nutz- und Störschall. Das ganze gibt es auch in 360° Technik, sodass es wirklich rund um den Kopf funktioniert. Ein anderer wichtiger und meist unbeachteter Aspekt ist das Ohrpassstück. Dies muss in der Dichtigkeit angepasst werden denn: Das Hörsystem kann nur bearbeiten, was dem Ohr fehlt. Alles, was naturell ankommt, bleibt auch naturell. Das ist auch gut so, heißt aber: Wenn ich einen Hörverlust von 40% habe, kann das Hörgeräte auch nur 40% bearbeiten. Last but not least möchte ich nochmal an "Hörtaktiken" erinnern. Wer Verständigungsprobleme hat, sollte sich nah an den Kommunikationspartner und fern der Störquellen platzieren. Ebenso in halligen Situationen. Auch wenn Hörgeräte auch Hall reduzieren können, ist dieser umso größer, je weiter man weg ist vom Direktschall. Du merkst, es ist sehr komplex und das war auch lange noch nicht alles ;)

2.
welche Tests sind am geeignetsten um die DIESBEZÜGLICHE Verstehverbesserung objektiv messen zu können?


Der Alltag. Ob man mit den Geräten im "Labortest" 100% verstehst oder nur 80% kann einem ziemlich egal sein, solange es im Alltag funktioniert. Die Krankenkassen fordern eine Verbesserung von mindestens 15% in Ruhe und 10% im Störlärm (Kann variieren je nach Hörverlust), das ist aber eine Formalität. Prinzipiell wäre die sinnvollste und gängigste Messmethode, um deine Frage dennoch zu beantworten, der Freiburger Sprachtest mit 65dB Nutzschall frontal und 60dB Störschall rückwärtig. Kann auch rechts und links durchgeführt werden. Ebenso können Geräusche simuliert werden und man unterhält sich testweise mal mit seinem Akustiker derweil. Warum Freiburger Sprachtest? Weil einzeln gesprochene Worte keine Kombinationsmöglichkeit bieten und es hier um das reine verstehen geht. Ein Satztest wäre auch möglich, solange er sinnlose Wortkonstellationen enthält.

3.
was muss der HGA können, um die DIESBEZÜGLICH individuell geeignetste Konfiguration hinzubekommen?


Erstmal gründliche Vorarbeit leisten.
1. Hörtest machen, egal, ob schon einer vom HNO vorliegt oder nicht. Übrigens sollte er hier jeden Ton mindestens zwei Mal messen und bei Abweichung noch ein drittes Mal. Auch der Spratest gibt erste Hinweise auf spätere mögliche Verbesserungen mit den Hörsystemen.
2. Die Anamnese. Es ist wichtig zu wissen, was der Kunde subjektiv empfindet und wie sich die Hörsituationen objektiv konkret gestalten. Wie eben genannt sind es oft Kleinigkeiten wie die Sitzposition, Raumgröße usw.
3. Richtige Auswahl treffen. Mein letzter Stand ist, dass es rund 2500 Hörsysteme auf dem Markt gibt. Kein Akustiker kennt die alle auswendig, spezialisiert sich in der Regel aber auf ausgewählte Hersteller. Hier macht es durchaus Sinn, verschiedene Preislagen zu vergleichen. Der Akustiker sollte zwar ein "Optimum" empfehlen, aber auch einen Vergleich verschiedener Techniken zulassen.
4. Gute Anpassung. Wer nur den "Krankenschwesterknopf" drückt (Firstfit = Voreinstellung) kann Glück haben, aber keine Ahnung. Natürlich ist die Voreinstellung erstmal eine ERSTE Einstellung und lässt sicher in anschließenden Sitzungen Raum für Optimierung. Dennoch sollte man hier sowohl vom Handling, als auch vom Hören her kleine Anpassungen vornehmen. Eventuell verschiedene Hörprogramme, Lautstärkefunktion, Insitu-Messung (Hörtest über die Hörsysteme).
5. Aufklärung. Der Akustiker sollte jedem Kunden eine realistische Erwartungshaltung vermitteln. Was nicht geht, geht nicht. Was schrill klingt, klingt schrill. Was dauert, dauert. Das Gerät kann immer nur unterstützen, aber nie die Arbeit komplett übernehmen.
6. Austausch. Simpel aber logischerweise auch effektiv. Rückmeldungen sind erstmal die Basis jeder Nachjustierung. Natürlich auch Messungen und ggf. Auswertungen über Datalogging (Zeichnet Tragezeit, ggf. Hörsituationen und manuelle Änderungen auf -> Achtung: Datenschutzthema!). Dennoch muss der Akustiker auch ggf. auf Lautstärke pochen, da sonst kein oder nur ein geringer Hörerfolg zu erwarten ist.

Auch das ist sicher nicht alles, aber auch mal ein kurzer Überblick.

Du siehst, es ist sehr individuell und subjektiv. Spielt der Kopf nicht mehr mit, bringen die besten Hörsysteme nichts. Liegt der Hörverlust im Tieftonbereich ist die Anforderung auch wieder eine gänzlich andere als im Hochtonbereich (Normalfall). Manchen reicht die reine Verstärkung damit der Kopf wieder selektieren kann.
Ich hoffe als keiner Exkurs reicht dir das erstmal ;)

LG
Alex
Zuletzt geändert von Akustik Alex am 31. Okt 2020, 12:11, insgesamt 3-mal geändert.
andreas7-2
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Re: Rat und Tat

#5

Beitrag von andreas7-2 »

Hallo Akustih Alex,
Herzlich Willkommen!
Und ganz spotan ein Lob für deine ausführliche und verständliche erste Antwort !
Gruß Andreas
Akustik Alex
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Re: Rat und Tat

#6

Beitrag von Akustik Alex »

Vielen lieben Dank, Andreas!
Johannes B.
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Re: Rat und Tat

#7

Beitrag von Johannes B. »

lieber Alex,
hab' recht herzlichen Dank für deine ausführliche erste Antwort.
Das bringt mich auf einen Gedanken:
Hast du Lust, hier in einer Art "Interviewsituation" vertiefend "aus dem Nähkästchen zu plaudern" hinsichtlich der Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung des Betroffenen einerseits und der Machbarkeit andererseits?
Beispiel:
was ist der wesentliche Unterschied hinsichtlich Versorgungsergebnis bei einer Schalleitungsschwerhörigkeit vs. Schallempfindungsschwerhörigkeit?
Ich würde mich sehr freuen, wenn hier ein Klarheit schaffender Dialog entstünde.
Was hältst du davon?
"8samkeit ist praktizierte Hörhilfe" :sm(89):
Akustik Alex
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Re: Rat und Tat

#8

Beitrag von Akustik Alex »

Gern geschehen, Johns. Freut mich, wenn es hilft.

Was genau meinst du mit "Interviewsituation". Ich habe ja ohnehin meinen Rat angeboten, also kann mir jeder gern Fragen stellen oder mich in Themen um Antwort/Stellungnahme bitten. Ich bin da offen für alles ;)

Gruß,
Alex
Johannes B.
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Re: Rat und Tat

#9

Beitrag von Johannes B. »

nun, Alex, ich meinte genau:
"Frage und Antwort".
wie diese Frage:
Beispiel:
was ist der wesentliche Unterschied hinsichtlich Versorgungsergebnis:
einerseits bei Schalleitungsschwerhörigkeit (was ist realistisch erwartbar im "Partynoisestörumfeld")?
die gleiche Fragestellung bei Schallempfindungsschwerhörigkeit.
UND:
wodurch genau können da Zuzahlungshörgeräte ein besseres Verstehen bewirken als eine zuzahlungsfreie Versorgung?

Gruß
Johns
"8samkeit ist praktizierte Hörhilfe" :sm(89):
Akustik Alex
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Re: Rat und Tat

#10

Beitrag von Akustik Alex »

Johns hat geschrieben:was ist der wesentliche Unterschied hinsichtlich Versorgungsergebnis:
einerseits bei Schalleitungsschwerhörigkeit (was ist realistisch erwartbar im "Partynoisestörumfeld")?
die gleiche Fragestellung bei Schallempfindungsschwerhörigkeit.
UND:
wodurch genau können da Zuzahlungshörgeräte ein besseres Verstehen bewirken als eine zuzahlungsfreie Versorgung?
Guten Abend Johns,

das baut ja schon ein wenig auf die vorangegangene Frage auf. Auch hier muss ich sagen, dass die Antwort sehr allgemein ausfallen wird, weil das Fallbeispiel zu unkonkret ist. Für eine möglichst genaue Prognose müsste ich wissen, wie stark der HV in den einzelnen Frequenzen ist, wie gut das Sprachverstehen ohne HG, welche konkreten Situationen, wieviel Schallleitungs- und Schallempfindungsanteil, liegt eine Hyperakusis vor usw. Also ähnlich wie bei der letzten Frage.

Was die SNR angeht, kann ich erstmal nur auf den Beitrag oben verweisen.

Grundlegend hat eine Schallempfindungsschwerhörigkeit einen entscheidenden Unterschied zur Schallleitungsschwerhörigkeit. Prinzipiell geht der Schall immer den selben schematischen Weg: Luft -> Außenohr -> Mittelohr -> Gehörschnecke -> Nerv -> Gehirn
Bei der Schallleitungsschwerhörigkeit liegt ein Defizit im Außen- oder Mittelohr vor. Sprich eine mechanische Unterbrechung, Verstopfung o.ä.
Bei der Schallempfindung ist die Schädigung im Innenohr, also bei der Umsetzung in Nervenimpulse und deren Weiterleitung.
Eigentlich müsste man noch eine dritte Variante hinzuziehen, nämlich die kognitive, aber auch das hab ich ja schon angesprochen.

Bei der SL-HM verschiebt sich ALLES zu höheren Schallpegeln, sprich: Man hört später, erträgt aber auch mehr Lautstärke. Die Hördynamik ist also normal.
Bei der SE-HM ist das oft anders. Man hört später, findet es aber wesentlich früher unangenehm. Die Dynamik ist also eingeschränkt. Hier muss das HG nicht nur frequenzabhängig verstärken, sondern auch die Dynamik viel stärker berücksichtigen. Ergo ist bei einer SE-HM pauschal ein "schlechteres" Ergebnis zu erwarten, da einfach mehr Faktoren wichtig sind. Auch hier möchte ich nochmal anmerken, dass der naturelle Schall naturell bleibt. Heißt: Wenn man an einem Presslufthammer vorbeigeht, ist und bleibt der laut. Egal ob das HG an ist oder aus, denn es reduziert grundlegend nur, was es selbst verstärkt. (Abgeshen von ICP-Geräten [Kombination aus HG und Gehörschutz], aber das ist eine andere Baustelle).

Abgesehen von den bereits genannten Features weiter oben, haben Zuzahlungsgeräte grundlegend immer mehr Kanäle. Wer sich einen Equalizer einer Stereoanlage/Autoradio vorstellt, kann das 1 zu 1 auf Hörgeräte übertragen. Das heißt Kassensysteme müssen mindestens 4 Kanäle haben, High-End-Geräte haben bis zu 40. Alle Zusatzfunktionen arbeiten ebenfalls in mehr Kanälen und können auch in verschiedenen Frequenzbändern unterschiedliche Richtwirkungen erzeugen.

Falls du da ein konkretes Beispiel hast, geh ich da gern nochmal drauf ein. Aber wirklich alles zu erklären würde den Beitrag sprengen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Link zu meinen Facharbeiten hier posten darf (sie sind themenbezogen). Wenn ja, verlink ich die gern mal, denn genau darum geht es. Sonst schau mal in meinem Profil. Hab eine als "meine Seite" angegeben.

Besten Gruß,
Alex
Johannes B.
Beiträge: 2345
Registriert: 28. Mai 2020, 20:58
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Re: Rat und Tat

#11

Beitrag von Johannes B. »

Suuuper, toll!!!
deine Idee mit deiner Seite finde ich hervorragend,
da kann man - so man will - sich mal richtig "reinknien".
Ich werde das jetzt mal tun.
Ich danke dir herzlich.

LG
Johannes
"8samkeit ist praktizierte Hörhilfe" :sm(89):
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