Heute möchte ich mich hier vorstellen, nachdem ich schon eine Weile mitlese und hier und da mit diskutiere. Mein Name ist Mike, 53 Jahre alt, verheiratet, mit drei Kindern. Wir sind alle gebürtige Münchner, leben aber mittlerweile in der oberbayrischen Provinz zwischen Augsburg und Ingolstadt.
In meiner Familie kommt Schwerhörigkeit leider häufig vor. So ab Mitte vierzig geht es los. Ich habe als Bub miterlebt, wie es meinem Papa erging. Zuerst mußte er den Fernseher immer lauter drehen, dann kamen die Hörgeräte. Fröhliche Gesellschaften mit vielen Leuten wurden für ihn immer anstrengender, so daß er sich aus vielem zurückzog.
Das hat mich schon als Kind geprägt. Ich habe laute Geräusche gemieden, also keine Discos besucht, Kopfhörer so leise wie möglich eingestellt, Streß möglichst vermieden. Sogar im Job habe ich versucht, meine Laufbahn auf wenig Streß auszurichten: statt Manager lieber Fachexperte werden, statt Hauruck-Aktionen lieber analytisch-geplant an die Sachen herangehen. Ich hatte ein tiefsitzende Angst davor, daß mein Gehör auch irgendwann schlechter wird, und hoffte, durch eine umsichtige Lebensweise - in Bezug aufs Hören - davon verschont zu bleiben.
Genutzt hat es nichts: jetzt ist er da, der Hörverlust.
Angefangen hat das schon vor über dreißig Jahren. Kurz nach dem Abi hatte ich nach einem kleinen Tubenmittelohrkatarrh plötzlich einen Tinnitus im linken Ohr. Das hat mich anfangs nicht so arg gestört. Wegen der Vorgeschichte in meiner Familie hatte ich mich mal komplett durch-checken lassen. Ich wollte wissen, ob es eine Ursache für den Tinnitus gibt. Also wurde ich geröngt, mußte zum CT, sprach mit dem Psychiater. Erfolg: null, keine Ursachen zu erkennen.
Ich fühlte mich von den Ärzten nicht wirklich ernstgenommen in meiner Sorge. Der Ohrenarzt sagte, Schwerhörigkeit sei nicht vererbbar. Mag sein, aber die Veranlagung dazu vielleicht? Ich hätte mir mehr Empathie gewünscht und Hinweise darauf, was ich tun kann, damit es nicht schlimmer wird.
Mein Onkel und mein Cousin haben sehr viele Ärzte aufgesucht, da bei ihnen der Hörverlust sehr stark ist. Mein Onkel kennt vermutlich jeden Experten persönlich, scheint mir.
Vor etwa 15 Jahren hatte ich eine Phase, in der mich der Tinnitus extrem gestört hat. Mittlerweile war auch im rechten Ohr ein Pfeifen, wenn auch leiser als links. Mich hat das verrückt gemacht. Wie in einer Abwärtsspirale habe ich mich immer mehr auf den Tinnitus konzentriert, wodurch er mir immer stärker auffiel. Beim Arzt gab es wieder keine Hilfe. Keine Untersuchung fand eine Ursache, kein Arzt gab eine Hilfe.
Mein Ausweg bestand darin, die Geräusche zu ignorieren. Wenn die Ärzte mir das nicht abschalten können, muß ich mich damit arrangieren und es akzeptieren, dachte ich mir. Das geht eigentlich gegen mein Wesen. Ich mache mir sonst über viele Dinge Gedanken und Sorgen und nehme alles viel ernster, als es angebracht ist. Das Ignorieren funktionierte ganz gut. Bis heute nehme ich den Tinnitus nur beim Einschlafen wahr oder wenn ich mich bewußt darauf konzentriere. Natürlich auch in Umgebungen, wo es total still ist - aber mit drei Kindern ist es nie still ...

Vor sieben Jahren habe ich dann das erste Mal festgestellt, daß ich links schlechter höre. Ich habe das zunächst nicht wahrhaben wollen. Zum einen dachte ich, Hörverlust geht immer einher mit einem Hörsturz. In meiner Familie passierte das so. Mein Cousin hatte das zum Beispiel ganz extrem. Darauf "wartete" ich, dann wäre ich gleich zum Ohrenarzt gegangen. So nahm ich an, daß es nur vorübergehend sei. Also ignorierte ich es, so wie ich es seit Jahren beim Tinnitus machte. Das rechte Ohr hat es ja ausgeglichen.
Vor etwa drei Jahren merkte ich dann, daß ich rechts auch nicht mehr richtig höre. Dank Homeoffice im Lockdown war es aber kein Problem, denn die Kopfhörer zum Skypen konnte ich einfach etwas lauter stellen. Also schön weiter ignoriert und gehofft, daß es wieder besser wird - oder nicht schlechter. Aber ich merkte doch, daß das Fernsehen-Schauen anstrengender wurde. Auch meine Frau und die Kinder sprachen mich aufs Hören an, wenn ich schon wieder etwas nicht verstanden hatte.
Also bin ich Anfang letzten Jahres zum Ohrenarzt gegangen, der dann, wie sollte es anders sein, einen Hörverlust feststellte und ein Hörgerät verschrieb. Nicht ohne die erwarteten Vorwürfe, warum ich denn erst jetzt käme. Die Untersuchung inklusive CT fand keine Ursache für den Hörverlust.
Ich versuche, nicht so viel darüber nachzudenken. Finge ich an nachzudenken, dann wäre ich maßlos enttäuscht, daß alle Vorsicht nichts verhindern konnte. Daß die Ärzte nichts tun konnten, um es zu verhindern, obwohl ich schon vor dreißig Jahren gefragt habe. Dann hätte ich Angst davor, wie sich das weiterentwickelt, ob ich wie mein Onkel irgendwann gar nichts mehr höre und ein Cochlea-Implantat benötige. Daß mein Körper nicht dem entspricht, wie ich ihn gerne hätte. Ob ich das meinen Kindern vererbt habe und sie ab Mitte vierzig allmählich schlechter hören. Ob ich mich auch immer weiter aus der Gemeinschaft zurückziehe. Oder ob ich anfange, von einem Arzt zum nächsten zu laufen in der Hoffnung auf ein Wunder, die immer wieder enttäuscht wird.
Alle diese Gedanken, und noch mehr, sind da. Sie schlummern unter der Oberfläche. Ich halte sie zurück, indem ich sie einerseits ignoriere, so wie den Tinnitus. Und indem ich sie andererseits objektiviere und relativiere. Ich komme ja noch gut zurecht; man sieht die Geräte ja fast nicht, und wenn, könnten es auch Bluetooth-Kopfhörer sein; es ist noch viel Spielraum beim Gehör da; es gibt Menschen, die viel früher und viel schlimmer davon betroffen sind.
Ich will weder dramatisieren noch bagatellisieren. Aber vor allem will ich nicht, daß sich mein Leben zu sehr um die Frage des Hörens dreht. Ich hoffe, das gelingt mir auch dann noch, wenn das Hören noch schlechter wird.
Einen guten Start in das Neue Jahr wünscht
Mike