Erklärversuch: Hörentwöhnung

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jomo62
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Erklärversuch: Hörentwöhnung

#1

Beitrag von jomo62 »

Servus,
ist mir heute früh beim Laufen eingefallen. Ein Versuch:

https://cloud.gmx.net/ngcloud/external? ... 20und%20Co
Zuletzt geändert von jomo62 am 18. Dez 2015, 14:43, insgesamt 1-mal geändert.
Musiker_72
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Re: Erklärversuch: Hörentwöhnung

#2

Beitrag von Musiker_72 »

Hallo Jomo,

als Analogie eine gute Erklärung.

Ein paar Dinge würden mich interessieren:

a) Gibt es Untersuchungen darüber, ob das tatsächlich stimmt und wie lange so eine Hörentwöhnung dauert?
b) Meine Hörschwelle sinkt ja so ganz gemächlich mit zunehmender Frequenz ab. Eigene Tests mit Sinustönen haben ergeben, dass ich - wenn´s laut genug ist - bis ca. 12 kHz noch hören kann. Für mich als Musiker sind diese Frequenzen auch nicht ganz wertlos. Nur können sie von Hörgeräten nicht wiedergegeben werden - geschweige denn verstärkt. Allerdings kann ich Musik über einen Equalizer so verbiegen, dass ich sie mir ohne HG anhören kann (EQ-Kurve entspricht dann der 65 dB Verstärkungskurve des HG, über 8 kHz nehbe ich einfach die gleiche Verstärkung wie bei 8 kHz). Wie oft und wie lange müsste ich solcherart bearbeitete Musik hören, um dem "Verlernen" der hohen Frequenzen ab 8 kHz vorzubeugen?

Dank + Gruß,

Musiker_72
jomo62
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Re: Erklärversuch: Hörentwöhnung

#3

Beitrag von jomo62 »

Ich habe das die letzten Jahre mehrfach in unterschiedlicher "Gehirnliteratur" erlesen, kann aber leider keine konkreten Quellenangaben machen. In der Praxis bestätigt sich so etwas sehr oft aber nicht immer. Es dürfte also eine Abweichung geben bis hin zu "trifft gar nicht zu".

Von einem Verlernen der hohen Frequenzen ist bei sehr langsam abfallender Hörschwelle eher nicht zu sprechen. Man lebt mit seinem Gehör, wie jeder Mensch. Musik stellt hier auch einen Sonderfall dar. Es soll Kapellmeister gegeben haben, welche nachweislich höhergradig schwerhörig waren, die aber iin Bezug auf Musik analytische Qualitäten aufwiesen, die weit über dem Normalhörenden liegen (kann ich mir auch so vorstellen).
Sprache als Sonderfall ist sehr schwierig. Man kann zwar auch mit nur gutem Gehör unterhalb von 1kHz Sprache noch gut verstehen, hat aber die bekannten Probleme bei zusätzlichen Störschall. Dieses Problem läßt sich auch nur bedingt beheben, wenn man normale Hörbarkeit in den hohen Frequenzen wieder herstellt.
Hier stellt sich die Frage, ob dies ein Problem des Innenohres oder ein zentrales Problem ist (also im audit. Cortex). Bereits nach sehr schneller Versorgung mit HG nach einem Hörsturz, hat man hierbei schon Probleme. Da passiert also sehr schnell etwas, was nicht mehr ganz umkehrbar ist.

Grüße
jomo
fast-foot
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Re: Erklärversuch: Hörentwöhnung

#4

Beitrag von fast-foot »

Nun, beim Erklärungsversuch (es ist meiner Ansicht nach eher eine Veranschaulichung)
treten folgende Widersprüche auf:

Einerseits kann der auditorische Kortex nicht mehr expandieren, andererseits der Bereich, welcher für das Schmecken zuständig ist, schon (da er sich ja in den Bereich des auditorischen Kortex ausdehnt). Weshalb dies nicht in umgekehrter Weise möglich sein soll,
wird nicht begründet (was jedoch eminent wichtig wäre, da sonst ja eigentlich gar nichtserklärt wird, sondern nur angenommen (dabei soll ja die Annahme, dass ein irreversibler (Verdrängungs-) Prozess statt finde, erklärt werden).
Spinnt man den Gedanken weiter, würde das bedeuten, dass Bereiche nur expandieren können, was dann wiederum genau dem Sachverhalt widerspricht, welcher erklärt werden soll: Dass der
auditorische nicht mehr expandieren könne.
Nun gut, dies könnte ja unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein - genau diese werden jedoch nicht genannt geschweige denn wird nicht begründet, weshalb diese den betreffenden Effekt bewirken sollen.

Das Prinzip der Neuroplastizität des Gehirns widerspricht dem Erklärungsversuch. Insbesondere bei von einem Schlaganfall betroffenenen Patienten wird beobachtet, dass das Hirn in der Lage
ist, sich neu zu organisieren und bspw. bestimmte Fähigkeiten lokal in einer anderen Hirnregion aufzubauen (I).

Andererseits ist es so, dass bspw. in Bezug auf das Hören in frühkindlichen Phasen gewisse akustische Inputs erfolgen müssen, damit sich die Hörbahnen ausreichend entwickeln können (hier spreche ich allerdings nicht von den Untersuchungen der Sprachentwicklung bei Tieren (kein Witz, solche existieren in der Tat), welche für mich schlicht zu wenig Aussagekraft besitzen).
Ist dies nicht möglich, so bleibt eine lebenslange Einschränkung vorhanden - eine spätere Entwicklung auf ein "normales Niveau" ist ausgeschlossen (II).

Ich gehe davon aus, dass sowohl Sachverhalt (I) als auch (II) eine Rolle spielen. Je weniger weit die Entwicklung in entscheidenden Phasen in der frühen Kindheit fortschreiten konnte und je grössere Defizite in Folge dieser Ursache bestehen, desto eingeschränkter wird auch eine spätere Entwicklung möglich sein. Umgekehrt jedoch kann, waren die Hörbahnen zu einem bestimmten Zeitpunkt normal entwickelt, im Idealfalle auch wieder dieses Niveau erlangt werden, selbst wenn zwischenzeitlich (auch über eine längere Zeit) sich die (retrocochleären) Hörbahnen bspw. in Folge von Deprivation zurück gebildet haben.
Das ist etwas vereinfacht ausgedrückt. Ich denke aber, dass es so sein könnte, dass das je erreichte Niveau in einer Entwicklung als Grenze gelten könnte, welche nicht überschritten werden kann (dies um so eher, je weiter die Entwicklung der retrocochleären Hörbahnen voran geschritten ist bzw. je länger der Prozess der Deprivation bereits andauert).
Insbesondere ist es vermutlich so, dass es um so schwieriger sein wird, zu bestimmten (frühen) Zeitpunkten verpasste Entwicklungen nach zu holen, je später dies geschieht. Hat jedoch eine bestimmte Entwicklung bereits statt gefunden, bildet sich jedoch aus welchem
Grunde auch immer zurück, dürfte es eher möglich sein, diese erneut statt finden zu lassen.

Ein anderer Punkt ist jedoch der Umstand, dass Lärm (also auch durch Hörgeräte verursachter) ab einem bestimmten Ausmass Zellen in der ganzen Hörbahn (bis hin zum auditorischen Kortex) schädigt. Dieser Prozess ist wohl kaum rückgängig zu machen, auch wenn natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der auditorische Kortex neu organisieren kann. Hierbei braucht er allerdings in nicht geschädigte Bereiche vor zu stossen. Wie effizient bspw. Spracherkennung so noch möglich sein wird, ist eine andere Frage (da wohl weiterhin Hirnareale mit vielen beschädigten Zellen genutzt werden, was bspw. die Verknüpfungsmöglichkeiten (lokal) stark einschränken dürfte, wobei ich es für sehr gut möglich halte, dass dies nur beschränkt durch Nutzung weiterer Areale kompensiert werden kann (da sich die die Axone "einen weiteren Weg zu anderen Zellen suchen müssen", was sicher ein Nachteil ist)).

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf eine Forschungsarbeit verweisen mit dem Titel

"Einfluss wiederholter Lärmexposition auf die Auslösung von Zelltodmechanismen in der zentralen Hörbahn"

Hier der Link:

http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servl ... _aslan.pdf

Ich greife einige Zitate heraus und kommentiere sie:

"Die Schallintensität des Versuchsaufbaus der vorliegenden Arbeit betrug 115 dB SPL
und wurde gewählt, weil dies der Intensität von hochverstärkenden Hörgeräten
entspricht. Diese werden unter Umständen bei Patienten eingesetzt, deren Hörbahn
durch Lärm bereits verletzt wurde. Dieses Szenario sollte durch den Versuchsaufbau in
Teilen simuliert werden. Besonders dem Teilergebnis in der vorliegenden Arbeit, dass
die TUNEL-positiven Zellen, die im MGB der Doppeltrauma-Gruppe gefunden wurden,
im Zusammenhang mit einem schlechteren Sprachverständnis stehen, sollte klinisch
Beachtung geschenkt werden. Patienten, die mit hochverstärkenden apparativen
Hörhilfen versorgt wurden, könnten ihr Sprachverständnis, vor allem im Störgeräusch
mit der Zeit deutlich verschlechtern. Bevor eine Schädigung von zentralen auditorischen
Strukturen auftritt, wäre die Versorgung mit alternativer Hörtechnik (z.B. Cochlea-
Implantat mit elektro-akustischer Stimulation) zu diskutieren. Bei Patienten, die an
einem Hörverlust der hohen Frequenzen litten, konnte mittels elektro-akustischer
Stimulation eine signifikante Verbesserung des Sprachverständnisses gezeigt werden. Der
Einfluss von apparativen Hörhilfen auf die zentralen Strukturen des Hörens ist
jedoch insgesamt bisher kaum erforscht."

Und insbesondere bedeutet eine Beeinträchtigung des Sprachverstehens in Folge eines
Absterbens von Neuronen in der Tat eine irreversible Schädigung von am Hörprozess
beteiligten Strukturen.

"Unsere Gruppe fand Hinweise, dass Deprivation aufgrund von Haarzellverlust nicht der
einzige Mechanismus sein kann, der zu einem Zellverlust führt. Unmittelbar nach Beschallung fand sich im ventralen Nucleus Cochlearis, der ersten Schaltstelle der Hörbahn,
ein signifikanter Zelldichtenverlust gegenüber der unbeschallten Kontrolle."

Dass sich eine Schädigung auf Grund eines Lärmtraumas auch auf zentrale Regionen der
Hörbahnen auswirken kann, ist auch das Ergebnis weiterer Studien.

"Oft verwendet man stark verstärkende Modelle, die mehr als 115 dB SPL amplifizieren.
Dadurch wird die Hörschwelle häufig wieder erreicht. Die Belastung des Hörsystems infolge
des hohen Schalldruckpegels ist jedoch möglicherweise bedenklich."

Dies ist schon seit langer Zeit bekannt.

"Für die meisten Formen der Schwerhörigkeit steht keine kurative Therapie zur
Verfügung. Eine Therapie der Wahl bei lärminduzierter- oder Altersschwerhörigkeit
bleiben apparative Hörhilfen. Oft verwendet man stark verstärkende Modelle, die mehr
als 115 dB SPL amplifizieren. Dadurch wird die Hörschwelle häufig wieder erreicht. Die
Belastung des Hörsystems infolge des hohen Schalldruckpegels ist jedoch
möglicherweise bedenklich. Die psychoakustischen Defizite, beispielsweise
schlechteres Sprachverstehen im Störgeräusch, werden durch diese Therapie oftmals nicht
behoben. Dies ist einer der Gründe, warum man eine Beteiligung zentraler
Strukturen am Krankheitsbild der lärminduzierten Schwerhörigkeit vermutet. Deshalb
werden in der vorliegenden Arbeit Veränderungen in zentralen Schaltstellen der
Hörbahn (VCN, DCN, ICC, mMGB, dMGB, vMGB und AI) infolge von Lärmeinflüssen
untersucht.
Durch die vorliegende Untersuchung sollen Antworten und Diskussionsansätze für
folgende Fragen gegeben werden:

1. Inwieweit verschlechtert ein Lärmtrauma die Hörschwelle bei bereits durch Lärm
vorgeschädigten Individuen?

2. Welchen Einfluss hat ein Lärmtrauma auf die neuronale Apoptose in zentralen
Schaltstellen einer durch Lärm vorgeschädigten Hörbahn?

3. Welche Rückschlüsse sind aus den Ergebnissen auf die Therapie mit stark
verstärkenden Hörgeräten bei lärminduzierter Schwerhörigkeit zu ziehen?"

Zu Punkt 3:

Ich würde es so formulieren:

Während zum aktuellen Zeitpunkt nicht gesagt werden kann, inwieweit die Folgen einer
Deprivation irreversibel sind, scheint es so zu sein, dass Högeräte irreversible Schäden
nicht nur in der Cochlea, sondern auch in den zentraleren Regionen der Hörbahnen verursachen können, wobei ersteres in Fachkreisen längst als erwiesen gilt.

Gruss fast-foot
Ausgewiesener Spezialist* / Name: Wechselhaft** / Wohnsitz: Dauer-Haft (Strafanstalt Tegel) / *) zwecks Vermeidung weiterer Kollateralschäden des Landes verwiesen / **) Name fest seit Festnahme
jomo62
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Re: Erklärversuch: Hörentwöhnung

#5

Beitrag von jomo62 »

Da steht viel Wahres drin.
Mir war jetzt eher daran gelegen, dem täglichen Kunden ein Bild zu liefern, welches ihm vermitteln kann, dass es erstens so was wie eine Hörentwöhnung gibt und zweitens, wie man sie sich vorstelen könnte.
Tatsächlich ist dieses Bild, wenn man es tiefgründiger betrachtet, verzerrt.
Dem Kunden aber zu sagen, "das ist einfach so und Punkt", wäre aber auch nicht fair.
Inzwischen hatte ich in der Praxis gute Erfahrung mit dem Erklärversuch gemacht.
Man darf davon ausgehen, dass der akustisch nicht vorgebildete Mensch von einer Hörentwöhnung noch gar nichts gehört hat. Um dazu ein bischen etwas zu vermitteln, hat sich das Bild ganz gut geeignet.

Betrachtet man das gängige bohrsche Atommodell, so wie es nach wie vor in Chemie/Physik vermittelt wird, stimmt dieses Bild bestenfalls für Wasserstoff. Für alle anderen Elemente wird es lediglich wegen der Anschaulichkeit verwendet, ist aber ziemlich sicher falsch. Mit dem Bild, Kern, Neutronen, Protonen und Elektronen, die um den Kern kreisen, läßt sich aber trotzdem vieles erklären. Eine zeitlang hatte man sogar gar keine andere Vorstellung davon.

jomo
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