Als schwerhöriger Mensch ein „normales“ Leben führen

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Neely
Beiträge: 18
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Als schwerhöriger Mensch ein „normales“ Leben führen

#1

Beitrag von Neely »

Hallo und sorry vorab schon mal für die Überschrift. Mir ist schon klar, dass „normal“ für jeden etwas anderes bedeutet. Aber oft liest man solche Sätze im Internet, dass man heutzutage als hörgeschädigter Mensch ein nahezu „normales“ Leben führen kann zb.

Ich habe eine seit Geburt leicht-mittelgradig schwerhörige Tochter (4 Jahre) und habe vor ein paar Tagen ein weiteres Kind bekommen, das wie es aussieht ebenfalls schwerhörig ist (mehrere Hörtests im Krankenhaus haben nicht funktioniert). Ansonsten ist bei uns in der Familie keiner von einer Schwerhörigkeit betroffen. Die Schwerhörigkeit bei den Kindern hat einen gendefekt als Ursache, dieser äußert sich in der Regel mit einer beidseitigen leicht bis mittelgradigen Schwerhörigkeit (Hörschwellen bei 30-50 db) und ist zum Glück nicht progredient.

Jetzt kommen wieder allerlei Sorgen und Gedanken hoch. Wie wird es für meine Kinder sein mit der Schwerhörigkeit aufzuwachsen und zu leben? Werden Sie gehänselt, ausgegrenzt? Werden Sie viele Nachteile haben in der Schule, bei der Jobsuche oder Probleme einen Partner zu finden. Ich weiß es gibt schlimmeres, aber dennoch wünscht man sich für seine Kinder natürlich ein Leben ohne Einschränkungen.

Deshalb wollte ich hier mal die mittelgradig schwerhörigen Mitglieder fragen, wie nehmt ihr euer Leben wahr? Gibt es viele Probleme/Hürden, die ihr auf die Schwerhörigkeit zurückführt?
Habt ihr Tipps für mich wie ich meine Kinder stärken/vorbereiten kann auf diese eventuellen Schwierigkeiten und worauf ich vielleicht achten sollte.
So ganz konkrete Fragen habe ich nicht, es sind eher allgemeine Sorgen die Zukunft betreffend.

Danke fürs Lesen und schon mal vorab für eure Antworten
LG, Neely
Ena2019
Beiträge: 49
Registriert: 3. Dez 2019, 15:21
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Re: Als schwerhöriger Mensch ein „normales“ Leben führen

#2

Beitrag von Ena2019 »

Hallo Neely,

ich habe auch eine angeborene Schwerhörigkeit. Diese wurde bei mir erst im Alter von ca. 3 Jahren entdeckt, weil meiner Mutter aufgefallen war, dass ich bestimmte Silben nicht ausspreche. Ein Hörtest bestätigte damals die Schwerhörigkeit.
Ich wurde sofort mit Hörgeräte versorgt. Ich habe jedoch neben dem Kindergarten für 2x/Woche eine spezielle Einrichtung besucht, wo ich Sprachförderung bekommen habe.
Für Kinder gibt es quietschbunte Hörgerätegehäuse. Ich fände es sehr wichtig, dass dein Kind die Farbe aussuchen darf, damit da eine gewisse Akzeptanz da ist. Wichtig finde ich auch, dass du mit deinem Kind über Schwerhörigkeit sprichst und warum es ein HG tragen soll. Erkunde mit deinem Kind spielerisch die Welt der Geräusche. Also z.B. das Hören von Vogelgezwitscher, Lieblingsmusik usw. mit und ohne HG. Somit lernt dein Kind recht schnell, dass es mit HG mehr am Leben teilnehmen kann.
Nachdem ich damals mit HG versorgt wurde, nahm mich die Erzieherin auf ihren Schoß und die anderen Kinder saßen im Kreis um uns herum. Sie erklärte den anderen Kindern warum ich HG trage und dass sie auf meine Schwerhörigkeit Rücksicht nehmen sollen.
Nach dem Kindergarten konnte ich sogar eine "normale" Schule (keine für schwerhörige Kinder) besuchen. Ich musste konsequent vorne sitzen, damit ich die Lehrer bestmöglichst verstehen konnte. Ich habe in einer Rekordzeit das Lesen erlernt und das Lesen vieler Bücher hat meinen Wortschatz sehr erweitert. Ich bin noch immer eine absolute Büchersüchtige.
Bis zum Alter von 30 Jahren hatte ich mich sehr für meine HG geschämt und hatte diese immer mit meinen Haaren verdeckt. Mit Hilfe einer Psychotherapie habe ich gelernt, die Hörbehinderung zu akzeptieren. Seitdem habe ich meine Haare auch sehr oft zum Zopf gebunden und fühle mich ohne HG "nackt".
Ich habe trotz Hörbehinderung mich bis zu einer Fachhochschulreife hochgearbeitet und hatte einen gut bezahlten Job. Leider hat mich eine Muskelerkrankung mit gerade einmal 39 Jahren in die Erwerbsminderungsrente verfrachtet.

Dein Kind wird niemals das natürliche Hören/Verstehen erreichen. Mit guten HG jedoch viel Erleichterung im Leben verspüren.
Kinder können grausam sein, deswegen werden Hänseleien oder Ausgrenzungen durchaus vorkommen. Je offener ihr mit der Schwerhörigkeit im Kindergarten, Schule, Verein, Freundeskreis usw. umgeht, desto normaler wird diese sein.

Im Alltag weise ich sehr oft auf meine Schwerhörigkeit hin, damit mein Gegenüber weiß, dass ich hin und wieder nachfragen muss, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Sehr wichtig ist für mich z.B. dass ich direkt von Vorne angesprochen werde, da ich dann am Besten verstehen kann. Meistens wird Rücksicht auf mich genommen. Die (vermeintlich) perfekten Idioten, bei denen ein Mensch gefälligst keine Behinderungen zu haben hat, gibt es leider auch. Von denen wende ich mich möglichst ab, weil ich diese eh nicht verstehen kann.
Natürlich habe ich trotz guter HG-Versorgung Nachteile im Alltag, weil ich eben nicht alles verstehen kann. Mich ärgert es durchaus immer wieder, doch ich kann ja nichts dafür.

Mittlerweile ist die HG-Technik und das HG-Zubehör mega gut. Wenn ich an die HG von 1981 denke. Au weia.

Meine Hörbehinderung war bei der Partnersuche nicht hinderlich. Ich habe einen sehr lieben Mann gefunden.

Liebe Grüße
Ena
hochtönin
Beiträge: 10
Registriert: 11. Mai 2023, 17:29

Re: Als schwerhöriger Mensch ein „normales“ Leben führen

#3

Beitrag von hochtönin »

Hi,
ich bin, so wie Ena2019 auch von Geburt an schwerhörig.
Im Grunde kannst du dir das Leben deiner Kinder wie ein Klavier vorstellen. Bei dir sind alle Tasten da, und bei deinen Kindern fehlen halt ein paar (hört sich gemein an, aber für deine Kinder sind 3/4 Taste wie für dich volle Tasten). Da sie es von klein auf gewohnt sein werden, mit 3/4 Tasten klar zu kommen, werden sie nie wissen oder es eher nie vermissen, dass sie nicht alles hören können. Viel eher werden sie dich fragen, wie hörst du das?

Ich habe durch die Schwerhörigkeit ein Hauch eines Sprachfehlers behalten, obwohl meine Mutter mich jahrelang zur Logopädie gebracht hat. Da liegt der Haken, wenn deine Kinder so etwas, wie das scharfe "S" nicht hören, werden sie es auch nicht so aussprechen. Es gibt einige Silben und Vokale, die besonders betont werden, aber als Hörgeräteträger schwierig sind.

Aber das ist nicht schlimm! (Habe Schule, Studium und verschiedene Jobs gehabt) Viel wichtiger ist, dass deine Kinder in das normale Leben eingebunden werden, sprich keine Extras aufgrund der Hörgeräte.
Generell habe ich das Gefühl, Hörgeräte werden nicht so als "Behinderung" angesehen, im Vergleich zum Rollstuhl, zum Beispiel.

Jobsuche oder Partnersuche sind auch kein Problem, denn am Ende sind Hörgeräte das kleinste Problem.
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