4,5 Monate altes Baby hochgradig schwerhörig / taubblind

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sulu
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4,5 Monate altes Baby hochgradig schwerhörig / taubblind

#1

Beitrag von sulu »

Hallo zusammen,

ich habe einige Fragen zu einem besonders schwierigen Fall mit meinem Kind. Mein Sohn ist mittlerweile 4,5 Monate alt. Er ist nahezu blind aufgrund von Augenkrebs und erhält aktuell eine Chemotherapie. Durch einen Gendefekt (GJB2) ist er hochgradig schwerhörig. Der Krebs hat keinerlei Zusammenhang mit der Schwerhörigkeit, aber das fehlende Sehen erschwert die Situation ziemlich z.B. Hörreaktionen besser zu deuten oder im Falle von CI die Sprache zu erlernen).
Er hat bereits 6 Bera bekommen, zwei davon in Narkose. Die erste in der Universitätsklinik Essen und die zweite in der LMU München diese Woche. Mit 2,5 Monaten hat er Hörgeräte erhalten - erstmal eingestellt auf die Hörergebnisse der Universitätsklinik Essen. Wir sind wöchentlich bei der Hörakustikerin und gemäß ihrem Eindruck (und auch unserem) hatte es sich deutlich verbessert und die Einstellungen wurden stärker nach unten korrigiert. Nun sind die Bera Ergebnisse der LMU München von dieser Woche aber deutlich schlechter ausgefallen und die Hörgeräte sollen an diese neuen Werte angepasst werden. Es wurde auch ein Trommelfellschnitt gemacht, es befindet sich kein Wasser dahinter. Mit diesem Hörverlust befinden wir uns direkt an der Grenze zwischen "noch mit Hörgeräten versorgbar" oder CI. Der Leiter der Phoniatrie/Pädiatrie persönlich hat sogar mit uns gesprochen, da es so schwierig ist. Seine Empfehlung ist noch bei Hörgeräten zu bleiben, da er sich nicht sicher ist, ob eine Sprachentwicklung mit CI möglich oder besser ist bzw. bestehen folgende Zweifel/Probleme.

- Er wird ggf. die Wörter nicht mit Inhalt füllen können (er kann z.B. einen Apfel fühlen, aber wird er verstehen dass dazu das Wort Apfel gehört?).
- Die Rehabilitation beim CI ist sehr aufwendig und es ist fraglich ob das aufgrund der Sehbehinderung 100% machbar ist.
- Jetzt ist er schon blind und hätte dann auch noch ein unnatürliches Hören.
- Der Krebs wird im Schnitt 6 mal nochmal kommen bis zu seinem 6. Lebensjahr und wir benötigen dann immer MRT-Bildgebungen. Die CI können MRT-Artefakte verursachen genau in der Region des Schädels wo wir die Bildgebungen für den Krebs benötigen.

Nun zu meinen vielen Fragen:

1.a. Welchen Nutzen haben die Beobachtungen/Einstellungen der Hörakustikerin, wenn sowieso nur die Bera als Grundlage für die Geräteeinstellungen genommen werden soll? Unsere Hörakustikerin hat über 20 Jahre Erfahrung mit Säuglingen und Kleinkindern und ich habe starkes Vertrauen in sie. Wir als Eltern sehen auch deutliche Hörreaktionen. Wenn er die Hörgeräte drin hat, fängt er an zu lachen und seine Augen fangen an zu suchen oder werden groß. Sein Babbeln entwickelt sich bis jetzt auch stetig und bleibt nicht auf dem gleichen Stand oder monoton. Wenn er in der früh aufwacht, quengelt er bis man die Hörgeräte einsetzt und auch beim Einsetzen fängt er schon zum Lachen an wie eine Art Vorfreude, weil er gleich hören wird. Aber so eine große Differenz ist schon extrem.

Wo liegt die Wahrheit? Einzig allein in der Bera?

Am Tag nach der Bera wurde nochmal ein Mini-Hörtest (3 Minuten) mit Hörgeräten von einer Audiologin in der LMU München gemacht und sie hat auch früher Reaktionen gesehen (er hat sich sogar dem Geräusch mit dem Kopf zugewendet), sodass der Arzt die Hörgeräteeinstellungen nochmal nach unten korrigieren ließ.
Ich möchte weder die Bera Messung noch die Beobachtungen etc. anzweifeln. Ich möchte es einfach nur verstehen, weil ich mir diese großen Differenzen nicht erklären kann. Die Beobachtungen der Audiologin der LMU München sind doch ebenfalls subjektiv - warum wird anhand ihrer Beobachtung nach unten korrigiert, aber die Beobachtung der Hörakustikerin als "falsch" dargestellt?
Und natürlich habe ich Angst, dass er entweder unterversorgt ist (Einstellungen der Hörakustikerin sehr niedrig) oder überversorgt (Einstellungen der LMU München gemäß Bera sehr hoch).

1.b. Woher weiß ich, ob nicht ein tiefer Ton die Aufmerksamkeit anregt und es als Hörreaktion betrachtet wird, aber sich kein wirkliches Sprachverstehen ergibt, da er z.B. die hohen Frequenzen in dem gesprochen Wort nicht hört?

2. Kennt jemand ein "von Geburt an" taubblindes Kind, welches mit CI versorgt wurde und eine normale Sprachentwicklung erlernen konnte?

3. Wenn die Hörgeräte irgendwann doch nicht mehr ausreichen und auf CI gewechselt werden muss, ist die Anpassung schwieriger, oder? Es sind ja dann die wertvollen frühkindlichen Jahre flöten gegangen wo sich das Gehirn am besten anpassen kann?

4. Wenn die Hörgeräte doch zu laut eingestellt sind, zerstört dies nicht die Haarzellen mit der Zeit sodass ein Teufelskreis entsteht (noch mehr Hörverlust durch zerstörte Haarzellen, dann wieder mehr Verstärkung usw.)

Anbei auch die Dokumente:
- Hörtest Universitätsklinik Essen
- Beobachtungen/Hörgeräte Einstellung lt. Hörakustikerin
- Bera LMU München

Vielleicht findet sich ja hier jemand, der mir ein bisschen weiterhelfen kann. 🙏




Hörakustikerin 1_.jpg
Hörakustikerin 2_.jpg
Hörtest LMU München 1.jpg
Hörtest LMU München 2.jpg
Hörtest Universitätsklinik Essen 1_.jpg
Katja_S
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Registriert: 22. Jul 2012, 13:57
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Re: 4,5 Monate altes Baby hochgradig schwerhörig / taubblind

#2

Beitrag von Katja_S »

Hallo,
ich habe den Text jetzt nur überflogen und habe nicht die Zeit, alle Fragen konkret zu beantworten, wollte dir aber trotzdem kurz antworten. Mein Sohn (jetzt bereits 16) ist ein Frühchen und mehrfachbehindert. Er ist gehörlos und CI versorgt (deshalb bin ich hier), körperbehindert und hat eine geistige Behinderung. Durch eine Optikusatrophie hat er auch eine Sehschädigung, die damals als Kleinkind als viel stärker angenommen wurde als sie sich inzwischen Zeit zeigt (vongeschätzten 5 bis 10 % bis ins Grundschulalter auf 50 bis 60 %, die er heute bei Sehtests sieht (mit beiden Augen, einzeln nur 20 bis 30 %). Der Unterschied bei uns war aber, dass die Ergebnisse der Bera mit Hörtests übereinstimmten und er auch mit HG erst ab 70/80 dB reagiert hat. Für uns war damals klar, dass er, wenn möglich, ein (bzw. 2) CI bekommt, auch wenn unsvon der CI Klinik wenig bzw. keine Hoffnung auf Lautspracherwerb gemacht wurde (nicht wegen dem schle hten Sehen sondern wegen den geistigen und motorischen Einschränkungen, viele geistig behinderte z.B. sprechen ja nicht, obwohl sie gut hören). Für uns hat die Aussicht auf eine bessere akustische Wahrnehmung der Umwelt (wenn er das Hören schon nicht durch Sehen ausgleichen kann)aber für die Entscheidung pro CI ausgereicht. Zum Erstaunen aller hat mein Sohn mit seinen CIs aber Lautsprache gelernt und spricht zwar nicht ganz normal (v.a. was Grammatik angeht), aber in ganzen Sätzen, er stellt Fragen, gibt passende Antworten, spricht geflüsterte Wörter nach ohne Mundbild, versteht auch bei Umgebungsgeräuschen )zeigt sich auch im Hörtest). Man kann also mir Vorhersagen, wie sehr eventuell auch mehrfach behinderte Kinder vom CI profitieren (mein Sohn hat PG 5). Nur das dazu!
Dein Kind ist ja aber mit 4,5 Monaten noch ziemlich jung, in dem Alter hatten wir erst die 1. Bera Untersuchung. Was spricht denn dagegen, erst noch ein paar Monate HG zu probieren, gerade wenn ihr den Eindruck habt, dass euer Baby von diesen profitiert und es diese akzeptiert? Gerade wenn es bereits Höreindrücke bekommt, ist es mit dem CI ja nicht eilig. Uns wurde damals gesagt, dass um den 1. Geburtstag wie bei uns ein guter Zeitpunkt sei und garantiert nicht zu spät! Ich habe bei den CI Rehas schon Kinder getroffen, diemit 2 oder 3 erst ihr CI bekommen haben und trotzdem in die Sprache gekommen sind!
Ich wünsche euch alles Gute!
Viele Grüße
Katja
Katja mit Erik (geb. 2008), mehrfachbehindert, u.a. sehbehindert und gehörlos
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Katja_S
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Registriert: 22. Jul 2012, 13:57
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Re: 4,5 Monate altes Baby hochgradig schwerhörig / taubblind

#3

Beitrag von Katja_S »

Hallo,
noch kurz: Habt ihr bereits Kontakt zu einer Frühförderstelle für taubblinde/sehhörgeschädigte Kinder? Hier in B.-W. ist die in Schramberg -Heiligenbronn, sonst weiß ich das nicht. Oder Seh- und/oder Hörfrühförderung?
Mein Sohn hatte damals alles 3 (jeweils im 2 bis 6 wöchigem Abstand). Das hat uns (und damit auch ihm) gut getan, schon mal alleine, weil jemand "Außenstehendes" seine Hörreaktionen etc. Im "normalen" Umfeld zusätzlich beurteilen konnte, es für sehgeschädigte und erst recht blinde Kinder spezielles Sehförderspielzeug gibt, das man auch selbst basteln kann usw. Wir waren dann auch phasenweise in Spielkreisen für hörgeschädigte Kinder.
Nur als Anregung 😀.
Viele Grüße
Katja
Katja mit Erik (geb. 2008), mehrfachbehindert, u.a. sehbehindert und gehörlos
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sanne
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Re: 4,5 Monate altes Baby hochgradig schwerhörig / taubblind

#4

Beitrag von sanne »

Hallo sulu,
ich frage mich, warum das Erlernen der Sprache aufgrund der Sehbehinderung / blind sein erschwert sein soll. Blinde Kinder haben in der Regel eine normale Sprachentwicklung, für sie ist Sprache als Kontakt mit der Außenwelt besonders wichtig. Und wenn ein Kind früh ein CI bekommt, ist dieses Hören der Normalzustand, es kennt ja nichts anderes.
Aber ich lese, dass euer Kind mit Hörgeräten reagiert, das ist wundervoll, redet viel mit ihm, erklärt ihm die Welt, benennt die Gegenstände. Natürlich wird euer Kind den Apfel, den Geschmack und das Wort miteinander verknüpfen können. Warum denn nicht?
Ich glaube, die richtigen Messergebnisse zu ermitteln erfordert viel Erfahrung und genaue Beobachtung, in wieweit die Bera genau ist kann ich nicht beurteilen.
Aber lasst euch nicht davon verunsichern, dass euer Kind aufgrund der Blindheit nicht in die Sprache kommt.
rechts: CI N6 von Cochlear seit 3/2016,
reimplantiert 3/2019,
Entfernung des Implantates aufgrund eines großräumigen Cholesteatoms 12/2021
Reimplantation 3/2022, CI 622, N7 von Cochlear
links: HG Omnia 4 von Resound
cleo99
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Re: 4,5 Monate altes Baby hochgradig schwerhörig / taubblind

#5

Beitrag von cleo99 »

Also wenn das Audiogramm stimmen sollte, gibt es für CIs überhaupt keinen Grund, das ist höchstens eine mittelgradige Schwerhörigkeit. Lasst euch noch Zeit und versucht es mit HG, das Baby ist ja noch viel zu jung um das jetzt schon sagen zu können.
KatjaR
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Re: 4,5 Monate altes Baby hochgradig schwerhörig / taubblind

#6

Beitrag von KatjaR »

Für Zeit lassen und auf Reaktionen mit Hörgeräten warten plädiere ich auch, aber nicht zu lange!
Ich entnehme den Bera-Ergebnissen eine hochgradige bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit.
Auch das Audiogamm vom 07.08.zeigt eine solche, auch wenn etwas abgeschwächter, relevant für den Hörverlust ist ja die Kurve ohne Hörgerät.
Der Hochtonbereich (wichtig für Sprachentwicklung) ist besonders betroffen. Reaktionen auf Geräusche im mittleren und unteren Frequenzbereich garantieren leider keine Sprachentwicklung.
Wenn es sich rausstellt, dass es im Sprachbereich ausreichend hört mit Hörgeräten, kann man abwarten, dann wäre auch eine spätere CI-Versorgung nicht problematischer als jetzt. Wichtig ist halt, das Kind nicht länger als nötig unzureichend versorgt zu lassen.
Da das rechte Ohr besonders betroffen ist, wäre es ja eine Möglichkeit das Kind rechts mit CI zu versorgen und links erstmal weiter bei Hörgerät zu bleiben.

Da das Kind sich mit den Augen nicht in der Welt orientieren kann, ist das Hören besonders wichtig und ich verstehe ehrlich gesagt die Aussage nicht, dass wegen der Blindheit mit Problemen beim Spracherwerb zu rechnen wäre. Das müßte dann ja bei blinden Kindern generell ein Thema sein, wovon ich bisher nichts gehört oder gelesen habe. Grade bei Taubblindheit ist eine Versorgung mit CI besonders wichtig, damit ein Kind die bestmögliche Chance bekommt die Welt sensorisch zu erfassen.

In München hat man viel Erfahrung und ich würde mich da auf die Ärzte verlassen.
Liebe Grüße
Katja
Langjährige CI-Trägerin (AB) Das Leben und dazu eine Katze, das gibt eine unglaubliche Summe.
(Rainer Maria Rilke)
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