Nun, beim Erklärungsversuch (es ist meiner Ansicht nach eher eine Veranschaulichung)
treten folgende Widersprüche auf:
Einerseits kann der auditorische Kortex nicht mehr expandieren, andererseits der Bereich, welcher für das Schmecken zuständig ist, schon (da er sich ja in den Bereich des auditorischen Kortex ausdehnt). Weshalb dies nicht in umgekehrter Weise möglich sein soll,
wird nicht begründet (was jedoch eminent wichtig wäre, da sonst ja eigentlich gar nichtserklärt wird, sondern nur angenommen (dabei soll ja die Annahme, dass ein irreversibler (Verdrängungs-) Prozess statt finde, erklärt werden).
Spinnt man den Gedanken weiter, würde das bedeuten, dass Bereiche nur expandieren können, was dann wiederum genau dem Sachverhalt widerspricht, welcher erklärt werden soll: Dass der
auditorische nicht mehr expandieren könne.
Nun gut, dies könnte ja unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein - genau diese werden jedoch nicht genannt geschweige denn wird nicht begründet, weshalb diese den betreffenden Effekt bewirken sollen.
Das Prinzip der Neuroplastizität des Gehirns widerspricht dem Erklärungsversuch. Insbesondere bei von einem Schlaganfall betroffenenen Patienten wird beobachtet, dass das Hirn in der Lage
ist, sich neu zu organisieren und bspw. bestimmte Fähigkeiten lokal in einer anderen Hirnregion aufzubauen (I).
Andererseits ist es so, dass bspw. in Bezug auf das Hören in frühkindlichen Phasen gewisse akustische Inputs erfolgen müssen, damit sich die Hörbahnen ausreichend entwickeln können (hier spreche ich allerdings nicht von den Untersuchungen der Sprachentwicklung bei Tieren (kein Witz, solche existieren in der Tat), welche für mich schlicht zu wenig Aussagekraft besitzen).
Ist dies nicht möglich, so bleibt eine lebenslange Einschränkung vorhanden - eine spätere Entwicklung auf ein "normales Niveau" ist ausgeschlossen (II).
Ich gehe davon aus, dass sowohl Sachverhalt (I) als auch (II) eine Rolle spielen. Je weniger weit die Entwicklung in entscheidenden Phasen in der frühen Kindheit fortschreiten konnte und je grössere Defizite in Folge dieser Ursache bestehen, desto eingeschränkter wird auch eine spätere Entwicklung möglich sein. Umgekehrt jedoch kann, waren die Hörbahnen zu einem bestimmten Zeitpunkt normal entwickelt, im Idealfalle auch wieder dieses Niveau erlangt werden, selbst wenn zwischenzeitlich (auch über eine längere Zeit) sich die (retrocochleären) Hörbahnen bspw. in Folge von Deprivation zurück gebildet haben.
Das ist etwas vereinfacht ausgedrückt. Ich denke aber, dass es so sein könnte, dass das je erreichte Niveau in einer Entwicklung als Grenze gelten könnte, welche nicht überschritten werden kann (dies um so eher, je weiter die Entwicklung der retrocochleären Hörbahnen voran geschritten ist bzw. je länger der Prozess der Deprivation bereits andauert).
Insbesondere ist es vermutlich so, dass es um so schwieriger sein wird, zu bestimmten (frühen) Zeitpunkten verpasste Entwicklungen nach zu holen, je später dies geschieht. Hat jedoch eine bestimmte Entwicklung bereits statt gefunden, bildet sich jedoch aus welchem
Grunde auch immer zurück, dürfte es eher möglich sein, diese erneut statt finden zu lassen.
Ein anderer Punkt ist jedoch der Umstand, dass Lärm (also auch durch Hörgeräte verursachter) ab einem bestimmten Ausmass Zellen in der ganzen Hörbahn (bis hin zum auditorischen Kortex) schädigt. Dieser Prozess ist wohl kaum rückgängig zu machen, auch wenn natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der auditorische Kortex neu organisieren kann. Hierbei braucht er allerdings in nicht geschädigte Bereiche vor zu stossen. Wie effizient bspw. Spracherkennung so noch möglich sein wird, ist eine andere Frage (da wohl weiterhin Hirnareale mit vielen beschädigten Zellen genutzt werden, was bspw. die Verknüpfungsmöglichkeiten (lokal) stark einschränken dürfte, wobei ich es für sehr gut möglich halte, dass dies nur beschränkt durch Nutzung weiterer Areale kompensiert werden kann (da sich die die Axone "einen weiteren Weg zu anderen Zellen suchen müssen", was sicher ein Nachteil ist)).
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf eine Forschungsarbeit verweisen mit dem Titel
"Einfluss wiederholter Lärmexposition auf die Auslösung von Zelltodmechanismen in der zentralen Hörbahn"
Hier der Link:
http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servl ... _aslan.pdf
Ich greife einige Zitate heraus und kommentiere sie:
"Die Schallintensität des Versuchsaufbaus der vorliegenden Arbeit betrug 115 dB SPL
und wurde gewählt, weil dies der Intensität von hochverstärkenden Hörgeräten
entspricht. Diese werden unter Umständen bei Patienten eingesetzt, deren Hörbahn
durch Lärm bereits verletzt wurde. Dieses Szenario sollte durch den Versuchsaufbau in
Teilen simuliert werden. Besonders dem Teilergebnis in der vorliegenden Arbeit, dass
die TUNEL-positiven Zellen, die im MGB der Doppeltrauma-Gruppe gefunden wurden,
im Zusammenhang mit einem schlechteren Sprachverständnis stehen, sollte klinisch
Beachtung geschenkt werden. Patienten, die mit hochverstärkenden apparativen
Hörhilfen versorgt wurden, könnten ihr Sprachverständnis, vor allem im Störgeräusch
mit der Zeit deutlich verschlechtern. Bevor eine Schädigung von zentralen auditorischen
Strukturen auftritt, wäre die Versorgung mit alternativer Hörtechnik (z.B. Cochlea-
Implantat mit elektro-akustischer Stimulation) zu diskutieren. Bei Patienten, die an
einem Hörverlust der hohen Frequenzen litten, konnte mittels elektro-akustischer
Stimulation eine signifikante Verbesserung des Sprachverständnisses gezeigt werden. Der
Einfluss von apparativen Hörhilfen auf die zentralen Strukturen des Hörens ist
jedoch insgesamt bisher kaum erforscht."
Und insbesondere bedeutet eine Beeinträchtigung des Sprachverstehens in Folge eines
Absterbens von Neuronen in der Tat eine irreversible Schädigung von am Hörprozess
beteiligten Strukturen.
"Unsere Gruppe fand Hinweise, dass Deprivation aufgrund von Haarzellverlust nicht der
einzige Mechanismus sein kann, der zu einem Zellverlust führt. Unmittelbar nach Beschallung fand sich im ventralen Nucleus Cochlearis, der ersten Schaltstelle der Hörbahn,
ein signifikanter Zelldichtenverlust gegenüber der unbeschallten Kontrolle."
Dass sich eine Schädigung auf Grund eines Lärmtraumas auch auf zentrale Regionen der
Hörbahnen auswirken kann, ist auch das Ergebnis weiterer Studien.
"Oft verwendet man stark verstärkende Modelle, die mehr als 115 dB SPL amplifizieren.
Dadurch wird die Hörschwelle häufig wieder erreicht. Die Belastung des Hörsystems infolge
des hohen Schalldruckpegels ist jedoch möglicherweise bedenklich."
Dies ist schon seit langer Zeit bekannt.
"Für die meisten Formen der Schwerhörigkeit steht keine kurative Therapie zur
Verfügung. Eine Therapie der Wahl bei lärminduzierter- oder Altersschwerhörigkeit
bleiben apparative Hörhilfen. Oft verwendet man stark verstärkende Modelle, die mehr
als 115 dB SPL amplifizieren. Dadurch wird die Hörschwelle häufig wieder erreicht. Die
Belastung des Hörsystems infolge des hohen Schalldruckpegels ist jedoch
möglicherweise bedenklich. Die psychoakustischen Defizite, beispielsweise
schlechteres Sprachverstehen im Störgeräusch, werden durch diese Therapie oftmals nicht
behoben. Dies ist einer der Gründe, warum man eine Beteiligung zentraler
Strukturen am Krankheitsbild der lärminduzierten Schwerhörigkeit vermutet. Deshalb
werden in der vorliegenden Arbeit Veränderungen in zentralen Schaltstellen der
Hörbahn (VCN, DCN, ICC, mMGB, dMGB, vMGB und AI) infolge von Lärmeinflüssen
untersucht.
Durch die vorliegende Untersuchung sollen Antworten und Diskussionsansätze für
folgende Fragen gegeben werden:
1. Inwieweit verschlechtert ein Lärmtrauma die Hörschwelle bei bereits durch Lärm
vorgeschädigten Individuen?
2. Welchen Einfluss hat ein Lärmtrauma auf die neuronale Apoptose in zentralen
Schaltstellen einer durch Lärm vorgeschädigten Hörbahn?
3. Welche Rückschlüsse sind aus den Ergebnissen auf die Therapie mit stark
verstärkenden Hörgeräten bei lärminduzierter Schwerhörigkeit zu ziehen?"
Zu Punkt 3:
Ich würde es so formulieren:
Während zum aktuellen Zeitpunkt nicht gesagt werden kann, inwieweit die Folgen einer
Deprivation irreversibel sind, scheint es so zu sein, dass Högeräte irreversible Schäden
nicht nur in der Cochlea, sondern auch in den zentraleren Regionen der Hörbahnen verursachen können, wobei ersteres in Fachkreisen längst als erwiesen gilt.
Gruss fast-foot