Ich höre wirklich sch...e

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rabenschwinge
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Ich höre wirklich sch...e

#1

Beitrag von rabenschwinge »

Die eigene Hörbehinderung einzusehen und sie zu akzeptieren fällt schwer. Lange verdrängt man das schlechte Hören erfolgreich und entwickelt so manch abenteuerliche Strategie und Taktiken um sein Umfeld und vorallem sich selbst hinter´s Licht zu führen.

Da nuscheln die Sprechenden, es ist so laut, man wäre müde und unkonzentriert....., mit den Gedanken woanders.

Und abends ist man geschafft vom ganzen Kombinieren, erraten, rauswinden aus "Mist, hab wieder was falsches gehört oder was überhört".

Ja, ich kenne die Taktiken, die Ausreden, das Schauspielern, das Kombinieren etc.pp.
Ebenso die chronische Erschöpfung und Gereiztheit.

Mein persönliches Tränenerlebnis a la" Oh Gott so schlimm" hatte ich vor ungefähr drei Jahren:

Ich war ohne Hörgeräte unterwegs.

Ein laut und inbrünstig singendes gut sichtbares Rotkehlchen im Baum, dass ich absolut nicht hörte. Es war ... Stummfilm. Ich sah den Schnabel sich bewegen, die Kehle vibrieren und hörte ..... Null, nada, riente. Nicht einen Ton!

Kinderstimmen ...... ich höre sie bruchstückhaft und verstehe das Gesagte oft nicht.
Auch mit Hörgeräten nicht.

Ich hatte lange verdrängt.....und musste nun einsehen, das eine ganze Menge fehlt. Im Hochtonbereich bin ich an Taubheit grenzend schwerhörig.

Ein Befund, der erschreckt aber auch Trauer auslöst. Trauer um das Nichtgehörte.

Es hat sehr lange gedauert zu erkennnen und anzunehmen. Die Hörgeräte nicht zu verstecken und offensiv sie zu tragen.

Zu sagen, das man in der Kommunikation ein Problem hat, ein ausgemachtes.

Und in heutigen Zeiten darum zu bitten beim Gespräch doch das Gesagte sichtbar zu machen. Ohne Absehen kann ich nicht alles verstehen. Erst recht dann nicht, wenn ich müde, gestresst oder ängstlich bzw. panisch bin dank Panikattacke.

Wie war bzw. ist Euer Weg?
Zuletzt geändert von rabenschwinge am 11. Okt 2020, 18:44, insgesamt 2-mal geändert.
Nanni
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#2

Beitrag von Nanni »

Hi,
als es bei mir hieß, ich brauche Hörgeräte, ist für mich erstmal eine Welt zusammengebrochen. Dafür war ich doch noch viel zu jung mit Anfang 40. Es durfte keiner wissen und die Haare mussten lang genug über den Ohren sein. Auch habe ich oft dumme Sprüche bekommen, weil ich irgendetwas nicht verstanden habe. Eine Arbeitskollegin hat mich mal richtig mies angefahren, ich soll mir Hörgeräte kaufen und hat mich dann mit meiner Frage im Regen stehen lassen. Das hat schon weh getan, das hätte man auch anders, freundlicher formulieren können. Der habe ich anfangs nicht erzählt, als ich tatsächlich dann welche hatte.
Irgendwann sind mir dann meine langen Haare auf die Nerven gegangen und eine Kurzhaarfrisur musste her, das war mir wichtiger als die Frage, ob man die Hörgeräte sieht.
Und wenn man offensiv mit der Hörschädigung (oder auch mit anderen Krankheiten, die nicht sofort erkennbar sind) umgeht, geht auch das Umfeld viel gelassener und verständnisvoller damit um. Ist mir andersherum mit einer Freundin auch so gegangen, die unter Panikattaken leidet, da kann man halt nicht immer in das neueste, angesagteste Lokal, da wird es dann auch mal eine olle Kaschemme, wo nicht viel los ist und der Geräuschpegel auch leiser ist. Oder das samstägliche Gewimmel im Shoppingcenter ist tabu, da geht man dann in der Woche mal abends hin.
Was mich immer noch stört, ist die "Ignoranz" oder "Unwissenheit" von Leuten, die meinen mit Hörgeräten wäre doch alles in Ordnung und man müsse alles hören; die dann nicht verstehen, dass man eben nicht immer alles versteht.

Gruß Nanni
Han_na
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#3

Beitrag von Han_na »

Hallo Rabenschwinge,

mir ging es haargenau so, und als ich nichts mehr zu verlieren hatte (Gehör), entschied ich mich für ein CI.

Mit dem CI habe ich dann aber nahezu perfekt hören gelernt, weil ich auch gute Hörerinnerungen hatte. Nach 6 Monaten konnte ich Menschen sogar nur an Stimmen unterscheiden, sogar am Telefon.

Mir tut es leid, das von dir zu lesen, es erinnert mich auch an meine "dunkle" Zeit.

Leider habe ich den Fehler gemacht, mit den CIs an einem Lärmarbeitsplatz zu arbeiten, und daher rate ich immer dazu, mit jedwelchem Hörsystem vor Lärm aufzupassen. Ist ne lange Geschichte, aber heute kann ich wieder an Gesprächen teilnehmen, sofern die ruhig verlaufen. Wenn nicht, leg ich meine Ohren ab und jeder hat Verständnis.

Also ich möchte dir mit meinen Zeilen sagen, dass es Hoffnung gibt, es gibt einen Weg, dass du wieder hören kannst, vielleicht so wie ich, besser als je zuvor.

Das wünsch' ich dir.

VG Hanna
Lärm zerstört Gehör bis zur Taubheit.
Lärm mit Hörsystemen zerstört Menschen von innen.
Lärm ist keine Bagatelle sondern ein echtes Problem heutzutage.
Earless90
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#4

Beitrag von Earless90 »

Hallo,

ich finde man muss dazu stehen, wenn man Mäkel hat und vor allem bei denen, für die man gar nichts kann (so wie hier). Was fremde Menschen denken kann dir eigentlich egal sein, und wenn Freunde einen auch herabwürdigen, sollte man sich neue suchen. Es ist fast immer so: Menschen, die noch nie in Berührung kamen mit einer Krankheit, können sich nicht hineinversetzen und verstehen es schlicht nicht.

LG
Freak C
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#5

Beitrag von Freak C »

Ich bin 66 und fange jetzt mit Hörgeräten an. Für mich ist es keine Krankheit! Es ist eine Behinderung, mir der man im Alter immer rechnen sollte. Mir ist es völlig egal, was andere über mich denken. Immer, wenn ich meine HG morgens anlege, freue ich mich, weil es sich anhört, als ob jemand die Wattebäusche aus den Ohren gezogen hat.

OK, es ist nicht mehr so wie früher. Das hochwertige HiFi-Erlebnis ist es nicht mehr, aber immer noch mega-besser als ohne. Und es ist schon sehr angenehm, wenn man sich auf dem iPad ein Video anschaut, und der Klang geht direkt in die Ohren, ohne dass mich meine Frau verwundert anschaut und fragt, was ich denn da schon wieder schaue :)

Jeder, mit dem ich über HG rede, ist interessiert; das fängt meist damit an, dass man ja auch schon schlecht hört, gefolgt von den Fragen wie es denn ist, und wie man vorgeht. Also bislang ausschliesslich positive "Mensch, ich ja eigentlich auch" Reaktionen.

Also: so what.
mirochen
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#6

Beitrag von mirochen »

Auch wenn ich nicht zu den wirklich Schwerhörigen gehöre (sprich: ein HG muss ich bislang nicht tragen, es hilft mir aber), so ist meine persönliche Schwerhörigkeit aber auch eine ziemliche Beeinträchtigung und ich erkenne mich hier in Manchem wieder...

Vor allem den ansteigenden Frust oder Ärger, wenn man beim zweiten oder dritten Mal wiederholen immer noch nicht gehört hat, was der andere gesagt hat - und das Geschimpfe, wieso der nicht mal die Zähne auseinander bekommt... ja, manche Menschen haben von sich aus eine unglaublich deutliche und saubere Aussprache, da habe ich eigentlich nie Probleme... aber viele Menschen eben nicht.

Oder wenn die Umstände mal wieder so sind, dass dreißig Geräusche gleichzeitig dröhnen und irgendwer was von mir will und ich gucke, wie ein Auto (und mich auch so fühle...).

Besonders Schlimm seit den Corona-Maßnahmen und beim Einkaufen. Ich verstehe die Kassierer ums Verrecken nicht und meine vorher sauber perfektionierte Art, um zur akustischen Deutlichkeit zu bitten (Kopf mit einem Ohr zum Mund des Sprechenden drehen), scheitert an physischen Hindernissen... so guckt Mirochen dann nicht mehr wie ein Auto, sondern wie ein LKW... und möchte manches Mal vor Peinlichkeit im Boden versinken.

HG trage ich ja nur zum Testen seit ein paar Tagen - wir werden sehen, ob aus "Ich höre wirklich sch...e" ein "Ich höre immer noch sch...e aber Technik hilft mir jetzt" werden kann.
Zuletzt geändert von mirochen am 4. Okt 2020, 17:31, insgesamt 1-mal geändert.
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Johannes B.
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#7

Beitrag von Johannes B. »

Hallo mirochen,
ich kann dich unerhört gut verstehen ;-)
ich selbst trage jetzt im dritten Jahr Hörsysteme, welche ich mir mühselig erkämpft habe, und welche trotzdem NICHT "verstehen in schwierigen Alltagssituationen" ermöglichen, sondern nur die Mindestanforderungen im Akustikerraum übererfüllen.
Seit die verstandvernebelnde Coronoia grassiert und die Leute sich mehrheitlich hinter ihren Scheulappen verstecken, seither verstehe ich faktisch nichts mehr.
So geht das nicht weiter.
Evtl. hilft da die seit 4 Tagen gültige Hilfsmittelrichtlinie, zu der ich hier einen eigenen Strang eröffnete, endlich zu anständiger Hörsystemversorgung zu kommen.
Schaun mer mal.

Liebe(und)Grüße
Johns
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Jani
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#8

Beitrag von Jani »

Johns hat geschrieben:Hallo mirochen,
ich kann dich unerhört gut verstehen ;-)
ich selbst trage jetzt im dritten Jahr Hörsysteme, welche ich mir mühselig erkämpft habe, und welche trotzdem NICHT "verstehen in schwierigen Alltagssituationen" ermöglichen, sondern nur die Mindestanforderungen im Akustikerraum übererfüllen.
Seit die verstandvernebelnde Coronoia grassiert und die Leute sich mehrheitlich hinter ihren Scheulappen verstecken, seither verstehe ich faktisch nichts mehr.
So geht das nicht weiter.

Liebe(und)Grüße
Johns
Hallo Johns,

es geht im Moment allen Hörgeschädigten so, dass sie schlechter verstehen als vorher, eben wegen der Mund-Nasen-Schutz-Pflicht. Ein HG und auch CI können Situationen mit Störschall (und der Alltag im öffentlichen Leben ist nun mal sehr laut) nicht perfekt ausgleichen. Es ist Technik und die kommt auch an ihre Grenzen. Mehr sage ich jetzt auch nicht mehr dazu und diskutiere auch nicht mehr weiter darüber.

Liebe Grüße Jani
Seit nach Geburt hörgeschädigt.

rechts: Naída Q70 CI seit 2001
links: Naída Q90 CI seit 2018

"Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar." (Antoine de Saint-Exupéry) :blume1:
Johannes B.
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#9

Beitrag von Johannes B. »

hallo Jani,
zwischen "perfekt verstehen" und "faktisch nix mehr verstehen"
liegen diverse Abstufungen.
es geht mir also NICHT um "perfekt", sondern um "besser als nix"
verschtehscht? ;-)

Liebe(und)Grüße
Johannes
"8samkeit ist praktizierte Hörhilfe" :sm(89):
akopti
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#10

Beitrag von akopti »

Johannes, bitte beim Thema bleiben.

In diesen Threat geht es darum, wie man persönlich mit der Erkenntnis "Ich bin Schwerhörig" oder "Ich höre sch...e" umgegangen ist.

Du bist dabei, mit deiner Tour wieder anzufangen und jeden Threat zu kapern und auf dein Spezialthema umzubiegen.

Ich bitte darum, dies nicht zu tun.

Mit freundlichen Gruß

Dirk
ohrenmaus
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#11

Beitrag von ohrenmaus »

Hallo,

ich habe auch lange gebraucht, meine Schwerhörigkeit anzuerkennen. Bei mir wurde die Schwerhörigkeit mit 12 Jahren bei einer Kontrolluntersuchung entdeckt, wobei ich als Baby schon Hörgeräte getragen habe, weil ich damals nahezu taub war. Als ich dann ohne HGs auf Geräusche reagiert habe, habe ich keine mehr getragen, man dachte, ich wäre "geheilt".
Auf jeden Fall habe ich mich mit 12 Jahren geweigert ein Hörgerät zu tragen, mit 22 habe ich mich dann doch dazu entschieden, immer durch die Haare versteckt und jetzt bin ich 26 und seit der Maskenpflicht trage ich einen Zopf, damit Leute Verständnis dafür haben, wenn ich sie nicht verstehe. Und ich muss sagen, ich hätte schon viel eher offen damit umgehen sollen, denn plötzlich nehmen Leute viel mehr Rücksicht :)
Johannes B.
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Re: Ich höre wirklich sch...e

#12

Beitrag von Johannes B. »

nun gut,
1999 - im Alter von 46 - bemerkte ich erstmals, dass ich Grillen nicht mehr zirpen höre.
Ich wollte daraufhin Hörgeräte.
Meine Tonaudiogrammergebnisse waren aber zu gut um Verordnungsfähigkeit zu begründen und ich bekam keine.
Erst 2006 war es so weit und ich bekam Hörgeräte, mit denen ich zwar weder wieder Grillen hörte, noch wesentlich besser verstehen konnte, aber man redete mir "Hörentwöhnung" ein.
Heute 2020 - mit dem Hörsystem von 2017 und Selbstjustierung mittels der Programmiersoftware - höre ich erstmals - nach mehr als 20 Jahren - das Zirpen von Grillen, aber verstehen tue ich so schlecht wie eh und je,
und jetzt mit den Coronoia-Scheulappen noch deutlich schlechter.
LG
Joh.
"8samkeit ist praktizierte Hörhilfe" :sm(89):
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