Voraussetzungen für Integration in einer Regeleinrichtung

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Gudrun
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Voraussetzungen für Integration in einer Regeleinrichtung

#1

Beitrag von Gudrun »

Hallo liebe Leute,

soorrrrryyyy, ist sehr lang... dafür habe ich auch viele Absätze gemacht!

Ich möchte eine kleine "Anleitung" aufstellen, welche Voraussetzungen für eine "erfolgreiche Integration" in der Regelschule bzw. im Regelkindergarten wichtig sind.

Für den Kindergartenbereich kann ich nicht so gut sprechen, da das bei mir schon eeeewig zurückliegt. :) Ich habe als Gehörlose (mit Hörgeräten und nur lautsprachlich erzogen) eine Regelschule besucht und abgeschlossen. Deshalb rede ich jetzt hauptsächlich von der Schule, meine damit aber auch teilweise den Kindergarten.

Übrigens, ganz wichtig: Auch wenn alle genannten Punkte erfüllt werden, gibt es keine Garantie, dass die Integration auch klappt. Manchmal ist eine Hörgeschädigteneinrichtung wirklich die beste Lösung.

Also, ich fange jetzt einfach mal mit "Voraussetzungen für eine gelingende Integration" an:

a) Persönlichkeit des Kindes

Die Persönlichkeit des hg Kindes empfinde ich am wichtigsten. Am allerwichtigsten finde ich eine gewisse Frustrationstoleranz, wenn das Kind akustisch deutlich weniger versteht als die anderen Kinder. Es gibt hg (= hörgeschädigte) Kinder, die sehen ein Glas als halbvoll an, andere sehen es als halbleer an.

b) Kooperationsbereitschaft des hörgeschädigten Kindes

Ich finde es enorm wichtig, dass das Kind zu seiner Hörschädigung steht, das wird am besten erreicht, wenn die Eltern mit ihm immer wieder darüber sprechen, aber nicht als bedauernswertes Defizit. Das Kind muss wissen, dass es aufgrund seiner Hörschädigung weniger als seine Klassenkameraden versteht.

Wenn es Hilfe braucht, sollte es sie auf mehrere Kinder verteilen. Die Eltern können sich mit der Lehrerin absprechen, dass sie dann und wann die Kinder woandershin setzt (mit deren Einverständnis).

In den Pausen kann es schnell passieren, dass das Kind in eine Außenseiterposition gerät. Es sollte also lernen, auf andere Kinder zuzugehen statt zu warten, bis sie auf es zukommen.

c) Kooperationsbereitschaft der Eltern

Es zahlt sich fast immer aus, wenn die Eltern zu den Lehrern freundlich sind und "Verhaltensregeln" nicht als Forderungen, sondern als Vorschläge vorbringen, lieber mal Kompromisse schließen, soweit es für das hg Kind zumutbar ist.

Deshalb finde ich einen Mobilen Dienst (ist oft ein Hörgeschädigtenpädagoge) gut, weil er ein neutraler Vermittler zwischen Lehrer, Kind und Eltern ist. Bei echten Problemen können die Eltern sich an die Schulleitung wenden.

Eltern und auch Lehrer / Erzieher können die wichtigsten Spiele, die in den Pausen gespielt werden, mit dem hörgeschädigten Kind durchgehen und Lieder- bzw. Spieltexte für es aufschreiben.

d) kooperative Lehrer / Erzieher

Kooperative Lehrer / Erzieher bekommt man z.B. durch einen Besuch in der Sprechstunde, eine Info-Stunde im Unterricht / Kindergarten, durch Elternarbeit (evt. auch in Gremien), durch einen Mobilen Dienst, der in die Sprechstunde des Lehrers kommt.

Gut ist es, die Schulleitung darum zu bitten, dass sie die Lehrer informiert, bevor das Kind in die Regelschule kommt.

e) kooperative Mitschüler bzw. Kindergartenkameraden

Wenn die Lehrer das hörgeschädigte Kind ganz normal behandeln, ist das am idealsten. Die Eltern des hg Kindes können Treffen mit ihnen und deren Eltern organisieren. Eine Infostunde durch die Eltern oder durch einen Mobilen Dienst ist auch ganz hilfreich.

f) Klassengröße

Dieser Punkt lässt sich leider nur bedingt beinflussen, man kann aber je nach Schulrecht durchsetzen, dass ein hg Kind drei hörenden Kindern entspricht.

Ansonsten gibt es die Alternative Montessori- und Privatschule, wo weniger Schüler sind, falls in Wohnortnähe vorhanden und die Eltern den Kontakt zu Hörenden besonders fördern wollen.

g) technische Hörhilfen und Sitzordung

Neben Hörgeräten, CI's gibt es Zusatzgeräte wie die FM-Anlage, die allerdings auch den Nachteil hat, dass das Kind dadurch auf den Lehrer konzentriert ist und die schwächeren Schülerstimmen u.U. nicht mehr verstehen kann.

Bzgl. Sitzordnung ist die Hufeisenform natürlich ideal, aber in großen Klassen mit 25 und mehr Schülern kaum realisierbar. Das Kind sollte den Lehrer immer gut sehen können. Ich persönlich fand die 2. Reihe immer am besten, weil manche Lehrer hin- und her wanderten.

h) Kontakt zu anderen Hörgeschädigten

Ich finde den Kontakt zu anderen hörgeschädigten Kindern (und auch Erwachsenen!) wichtig, besonders zu regelbeschulten. Andere hörgeschädigte Kinder findet man in Elternvereinen, auf Elterntagungen, es gibt auch spezielle Freizeiten. Eltern könnten auch so etwas mit anderen Eltern organisieren. Email- und Brieffreundschaften sind eine weitere Möglichkeit.

Außerdem können Eltern von regelbeschulten hg Kindern miteinander telefonieren und ihrem Kind berichten, was sich beim anderen hg Kind so abspielt.

Ich fand es übrigens immer toll, wenn meine hg Freundin, die von weit kam, bei mir an einem Wochenende übernachtet hat.

Jetzt habe ich euch bestimmt erschlagen, es gäbe noch sooo viel mehr zu sagen, aber das fiel mir auf die Schnelle ein. Vielleicht fällt euch ja noch was ein. :)

Liebe Grüße,
Gudrun (die jetzt endlich ins Bett geht)
Barbara
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Re: Voraussetzungen für Integration in einer Regeleinrichtung

#2

Beitrag von Barbara »

Hallo Gudrun!

Deine "Checkliste" ist superklasse und wird gerade ausgedruckt. Ich muss mich nach den Sommerferien damit beschäftigen, wo ich meine jetzt 5 1/2 jährige Tochter zur Schule schicke. Ihre Hörkurve liegt bei 70 bis 80 dB, und ich überlege 4 Alternativen in Hamburg:

1.wohnortnahe Regelschule
2.Regelschule mit I-Klassen etwas weiter weg
3.Schwerhörigenschule
4.Montessorischule

Ich bin noch offen für alles. Du erwähntest Montessori. Hast Du oder auch jemand anders Erfahrung mit Montessori bei Schwerhörigen?

Liebe Grüße
Barbara
Liebe Grüße
Barbara selber hochgradig schwerhörig mit hochgradig schwerhöriger Tochter (*12/97)
Gudrun
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Re: Voraussetzungen für Integration in einer Regeleinrichtung

#3

Beitrag von Gudrun »

Hallo Barbara,

danke für dein Kompliment. Man kann die Liste noch fortsetzen. Es ist wirklich ganz wichtig, sich immer am Kind zu orientieren. Ich ging auch "gern" in die Regelschule (so gern man halt in die Schule geht :D), weil meine Eltern mir das Tor zur Schwerhörigenschule stets offen gehalten hatten.

Montessori hat auf jeden Fall einen guten Ruf, mir fallen spontan zwei Hörgeschädigte ein, die zumindest eine Montessori-Grundschule besucht haben, ich habe einen der beiden schon auf dieses Forum hier verwiesen, vielleicht bekomst du ja eine Antwort.

In Hamburg gibt es übrigens auch die Möglichkeit, eine Realschule oder ein Gymnasium für Hörgeschädigte zu besuchen.

Liebe Grüße,
Gudrun
Chris
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Registriert: 5. Feb 2003, 19:37
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Re: Voraussetzungen für Integration in einer Regeleinrichtung

#4

Beitrag von Chris »

Ich selber bin auch hochgradig schwerhörig und ich habe an einer Regelschule mein Abi gemacht. Unsere Tochter ist auch schwerhörig und wir überlegen, welche Schule sie besuchen wird. Ich selber habe nicht so gute Erfahrungen mit der Regelschule gemacht, anderseits fand mein Mann, ebenfalls schwerhörig, die Schwerhörigenschule auch nicht klasse. Ich selber tue mich sehr schwer, unsere Tochter an einer Regelschule anzumelden, denn die Bedingungen sind heute viel schlechter geworden. Früher gab es in meiner Grundschulzeit noch "Frontunterricht", d.h. es sprach hauptsächlich der Lehrer und die Schüler hatten still zu sein. Dank der Mikroportanlage kam ich dann gut zurecht, obwohl wir seinerzeit 36 ! Schüler in einer Klasse waren. Auf dem Gymnasium ging es noch bei den älteren Lehrern ganz gut, die ebenfalls noch mit der Methode Frontunterricht arbeiteten, bei den jüngeren Lehrern hatte ich große Probleme, da kam die Mikroportanlage an ihre Grenzen.
Heutzutage wird kaum noch Frontunterricht in den Schulen gemacht. In den Grundschulen wird viel in Kleingruppenarbeit aufgearbeitet, die Kinder dürfen viel hin und her laufen. Es wird ein Thema in der Gruppe (schlecht für Schwerhörige)erarbeitet usw. Da fürchte ich, dass meine Tochter da nicht mitkommen wird. Wir möchten sie, da sie auch sprachentwicklungsverzögert ist, an einer Schule für Sprachbehinderte anmelden. Sie ist wohnortnah und es sind höchstens 14 Kinder in einer Klasse. Mal sehen, ob es klappt. Ich selber frage mich heute, wozu es gut ist mit Mühe sein Schulabschluss an einer Regelschule zu machen. Ich sehe da keinen großen Unterschied, ich kenne viele, die ihre Abi an der hörgeschädigten Schule in Essen gemacht habe und trotzdem sehr erfolgreich studiert haben. Sie sind sprachlich auch sehr kompetent, habe keine großen Probleme mit hörenden Kollegen, usw.

Gruß Chris
Mondfeuer
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Re: Voraussetzungen für Integration in einer Regeleinrichtung

#5

Beitrag von Mondfeuer »

Hallo Chris,
ich kann mir vorstellen, dass die Entscheidung "Sh-Schule oder Regelschule" nicht einfach ist.
Ich stand gerade selbst vor diesem Problem (Sohn - 9 Jahre HG-Träger).
Warum besucht ihr nicht einfach gemeinsam mal die SH-Schule in eurer Nähe und auch die Regelschule, auf die das Kind soll. Anschliessend könnt ihr ja dann entscheiden, in welcher Schule das Kind, eurer Meinung nach besser aufgehoben ist.
Meine Meinung dazu ist aber, dass es für ein SH-Kind nur von Vorteil sein kann, an einer SH-Schule unterrichtet zu werden. Ich spreche hier aus Erfahrung mit meinem Sohn, der bisher an einer Regelschule unterrichtet wurde und nun aber nächstes Jahr an eine SH-Schule wechselt, weil die räumlichen Voraussetzungen und auch das Verständnis und eine Aufmerksamkeit der Lehrer nicht da war.
Ab der 5ten Klasse an einer Regelschule geht es ohnehin nach dem Motto "Vogel friss oder stirb" und das möchte ich meinem Sohn nicht noch unter noch schwierigeren Umständen zumuten.

Ich wünsche Euch alles Gute :-)
Grüssles
Mondfeuer
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