Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören

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fast-foot
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Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören

#1

Beitrag von fast-foot »

Kürzlich ist im Magazin FOCUS ein Artikel zum Thema Hören und insbesondere der sich hieraus aktuell ergebenden Problematiken erschienen.

Da er viele medizinische Aspekte behandelt und so einen guten Ueberblick bietet, möchte ich ihn hier erwähnen. Er ist unter folgendem Link abrufbar:

http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber ... 15410.html

Allerdings finde ich vieles nicht sehr präzise, zum Teil gar falsch. Des weiteren werden (aus meiner Sicht) gewisse Schlussfolgerungen nicht gezogen (so dass sich Widersprüche ergeben) - das möchte ich nachholen (und gleichzeitig auch gewisse Aussagen präzisieren).

Zitat s. 1 unten:

"Experten warnen vor einem verheerenden Zusammenwirken von Zivilisationslärm und alternder Gesellschaft." (I)

Zitat s. 1 unten:

"Bei Kindern und Jugendlichen hat sich die Zahl der Hörstörungen nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in den vergangenen 24 Jahren verdoppelt. Weil die Probleme oft schleichend entstehen, verpassen viele den richtigen Moment, sich Hilfe zu suchen."

Worin besteht denn diese Hilfe? Bei einer Hörgeräteversorgung wird der Input verstärkt, was dazu führen kann, dass der unter dem mit (I) bezeichneten Zitat aufgeführte Zivilisationslärm verstärkt wird - sofern man hier nicht auf tiefe Begrenzung achtet (und dies (beim vorliegenden Hörverlust) überhaupt möglich ist).

Zitat s. 2 oben:

"Vor einem Jahr testeten sie zum ersten Mal eine neue Gentherapie, die fast Taube wieder hören lassen soll. Der erste Patient, der sich dieser experimentellen Therapie unterzog, ist Rob Gerk."

Hierzu ist zu sagen, dass die OHCs durch diese Therapie nicht "nachwachsen" können, sondern nur die IHCs. Wer sich einer Behandlung unterzieht, ist also weiterhin mindestens mittelgradig schwerhörig (wichtig ist auch zu wissen, dass eine einigermassen hochgradige Dysfunktion der IHCs (bei gleichzeitiger einigermassen intakter Funktion der retrocochleären Hörbahnen) vorliegen muss, damit die Therapie überhaupt etwas bewirken kann).
Somit wird auch nach noch so erfolgreicher Therapie eine Hörgeräteversorgung indiziert sein.

Zitat s. 2 oben:

"„Wir wollen das Ohr reparieren, anstatt seine Funktionen künstlich mit Hörhilfen nachzuahmen“, erklärt Hinrich Staecker."

Dieser Wunsch ist zwar verständlich; aus oben genannten Gründen liegt dessen (vollständige) Erfüllung selbst bei erfolgreichen Versuchen noch in weiter Ferne.

Zitat s. 2 unten:

"Forscher der amerikanischen Firma GenVec entwickelten eine Methode, den Atoh1-Schalter bei Säugern im Labor wieder auf Wachstum umzulegen."

Möglicherweise ist es aus evolutionsbiologischer Sicht "sehr sinnvoll", dass dieser "Schalter" beim Menschen "die betreffende Position einnimmt" (braucht allerdings nicht so zu sein). Wenn es so sein sollte, wird man das möglicherweise erst nach sehr langer Zeit fest stellen (obwohl nicht auszuschliessen ist, dass die Folgen verheerend sein können).

Zitat s. 3 oben:

"Die elektronischen Hörprothesen stimulieren über eine implantierte Sonde die Zellen in der Hörschnecke. Kinder, die nicht hören können, lernen damit normal sprechen."

Tja, das gilt leider bei weitem nicht für alle Kinder - leider besteht eine grosse Gefahr, dass das Kind bei einem mässigen bis schlechten Hörerfolg nicht adäquat gefördert wird. Somit kann es durch das Implantat erst recht behindert werden (als Folge einer entsprechenden Politik, welche ich hier nicht klassifizieren möchte).

Zitat s. 3 oben:

"Das Feld der klassischen Hörgeräte hat sich ebenfalls weiterentwickelt. Moderne Apparate erzeugen keine Störgeräusche und Rückkopplungen mehr."

Das stimmt nicht. Durch die Rückkoppelungsunterdrückung bspw. können viele Störgeräusche erzeugt werden, auch durch die Lautsprecher.

Zitat s. 3 unten:

"Vielen Schwerhörigen gelingt es zunächst noch, einem Gesprächspartner konzentriert zuzuhören. In Gruppen oder bei großem Hintergrundlärm versagt das Gehör aber bereits."

Hier konnen auch Högeräte oftmals nur bedingt Abhilfe schaffen - es besteht diesbezüglich noch ein sehr grosses Verbesserungspotential (das ist mitunter ein Grund, weshalb Hörgeräte oftmals in der Schublade landen (weil sie gerade in Situationen, in welchen sie am ehesten gebraucht werden, kaum ein besseres Sprachverstehen ermöglichen können), was ich (aus medizinischer Sicht, insbesondere unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher Aspekte, auf welche ich hier zum Teil eingehe) gar nicht unbedingt als falsch ansehe (jedenfalls kann ich nicht zum Schluss kommen, dass im Gegensatz dazu die Verwendung von Hörgeräten in jedem Falle immer die bessere Option sein soll).

Zitat s. 3 unten:

"„Ist das Sprachverstehen bereits eingeschränkt, reduziert sich auch der aktive Wortschatz“, warnt HNO-Spezialist Ernst. Wenn das Gehirn weniger Reize erhalte, verlerne es, sie zu verarbeiten. Schwerhörigkeit sei deshalb „der Hauptrisikofaktor für die Entwicklung der Altersdemenz“, sagt Ernst."

Wobei zu bedenken ist, dass noch nicht untersucht wurde, ob eine Högeräteversorgung das Risiko minimieren kann, jedoch Studien existieren, welche darauf hin deuten, dass Högeräte das Gehör und insbesondere auch das Sprachverstehen vermindern können.
Möglicherweise kann also eine Hörgeräteversorgung das Risiko für Altersdemenz erhöhen (kommt vermutlich auf die Einstellung (insbesondere abhängig von der benötigten Verstärkung bzw. Begrenzung) an), da ja die Korrelation bezüglich Schwerhörigkeit und Demenz besteht (und da man 1. ja trotz Hörgeräteversorgung genau gleich schwerhörig bleibt und 2. wegen dieser die Gefahr besteht, die gesamte Hörbahn (weiter, sogar irreversibel) zu schädigen).

Zitat s. 4 oben:

"Lange waren die Forscher davon ausgegangen, dass diese Flexibilität des Gehirns auf die früheste Kindheit beschränkt ist. Eine Aufsehen erregende US-Studie, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, lässt daran Zweifel aufkommen."

Hat der Autor noch nie etwas von "Neuroplastizität des Gehirns" gehört - einer wichtigen Voraussetzung für Lernfähigkeit?

Zitat s. 4 oben:

"Forscher der Johns-Hopkins-Universität setzten erwachsene Mäuse eine Woche lang in ein Gehege mit Dauerdunkel. Die Tiere waren praktisch blind. Als die Nager wieder ans Licht kamen, war ihre Sehfähigkeit unverändert, ihr Gehör hatte sich deutlich verbessert. Sie reagierten auf Töne, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatten. Aufzeichnungen der Gehirnaktivität ergaben, dass die Nervenzellen des Hörzentrums stärker auf Geräusche reagierten."

Siehe hierzu auch meine These bezüglich der Folgen von Deprivation! So erstaunlich finde ich das nicht.
Auch wenn hier nicht die entsprechende Schlussfolgerung gezogen wird:

Zitat s. 4 oben:

„Längerfristig würden wir gern eine vergleichbare Studie mit Menschen machen“, sagt Versuchsleiterin Hey-Kyoung Lee.

Bei ähnlichen Ergebnissen würde das dann (unter gewissen Voraussetzungen) auch die Folgen von Deprivation relativieren (wie ich es jetzt bereits mache, da diesbezüglich nur wenige gesicherte Erkenntnisse vorliegen).

Gruss fast-foot
Ausgewiesener Spezialist* / Name: Wechselhaft** / Wohnsitz: Dauer-Haft (Strafanstalt Tegel) / *) zwecks Vermeidung weiterer Kollateralschäden des Landes verwiesen / **) Name fest seit Festnahme
otoplastik
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Re: Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören

#2

Beitrag von otoplastik »

Hallo fast-foot,
warum schreibst Du das nicht dem Focus?
HG Otoplastik
Otoplastik
Sohn, 17 Jahre, mit 14 Monaten Meningitis, seitdem re. hochgradig und links taub, rechts HG (Naida S IX UP), links CI seit 01/14 (Naida Q70), vorher links viele Jahre PhonakCros :)
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Re: Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören

#3

Beitrag von EinOhrHase »

Salut

also, die Analysierung dieses Artikels aus dem Focus ist begrüssenswert und ich schliesse mich Otoplastik an, die Analyse / Kritik dem Focus zukommen zu lassen.
Ob die Redaktion darauf hin reagiert, ist die andere Frage.

Ausgehend von den Zitaten und Erläuterungen von Fast-Foot schliesse ich, dass der Focus (wieder mal?) nicht ordentlich recherchiert hatte und mehr oder weniger eine Halbwahrheit verbreitet.
Man könnte es auch auslegen als indirekte Werbung für die Hörgeräteindustrie.

Dieser Zivilisationslärm (was dieser auch immer alles beinhaltet) lässt sich meiner Meinung nach durchaus bis zu nem gewissen Grad reduzieren.
Richtig ist allerdings, dass eine beginnende Schwerhörigkeit (egal woher diese rührt) oft erst spät erkannt wird. Wie sollte sie "frühzeitig" erkannt werden, wenn es kein triftigen Grund gibt, einen Arzt aufzusuchen?

Rückkopplungen gibts nach wie vor, wohl nur nicht mehr ganz so oft wie anno dazumal.
Natürlich unter der Voraussetzung, das Ohrstück und Gerät sind entsprechend gut angepasst und eingestellt.

Ein Ohr reparieren??? Wunschdenken hin oder her - bei nahezu JEDEM Wesen, dass mit Ohren ausgestattet ist, ist es nur sehr sehr schwierig, den Verschleiss wirklich aufzuhalten, geschweige zu verlangsamen.
Würde man den Menschen in eine schalldichte Kammer sperren, wäre es vorstellbar, das Gehör verschleisst langsamer wie üblich *Ironie lässt grüssen.

Jemand, der sich mit der Materie des Hörens kaum auskennt, wird durch so einen Artikel in die Irre geführt und möglicherweise kommt der Gedanke auf: Hörgerät kaufen, anpassen lassen und alle Probleme sind gelöst............

Ärztliche Kompetenz hin oder her:
Auf solche Artikel wie im Focus kann ich liebend gern verzichten.
Menschen, die bedingt durch ihre (starke) Hörbehinderung nicht mehr wirklich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, haben mit genug Problemen zu kämpfen und müssen sich nicht auch noch sowas antun wie den genannten Artikel, sorry.

Gruss
Wer nicht (gut) hören kann, sollte genauer hinsehen ;)
Körper(sprache) lügt niemals :!:

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frieda
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Re: Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören

#4

Beitrag von frieda »

EinOhrHase hat geschrieben:Salut

Jemand, der sich mit der Materie des Hörens kaum auskennt, wird durch so einen Artikel in die Irre geführt und möglicherweise kommt der Gedanke auf: Hörgerät kaufen, anpassen lassen und alle Probleme sind gelöst............

Gruss
Nicht nur solche Artikel. Wenn man sich auf den Herstellerseiten über deren Hörgeräte informiert, steht bei fast jedem sowas wie "Mühelos Verstehen in jeder Hörsituation!". Und ich frage mich dann immer, was um alles in der Welt ich falsch mache, weil ich auch mit dem tollsten High-End-Gerät meinen Gesprächspartner in der Kantine nur schlecht verstehe, von "mühelos" bin ich selbst in optimalen Situationen meilenweit entfernt, konzentrieren muss ich mich immer...

Süßigkeiten für Kinder darf man doch auch nicht mehr mit "gesund" bewerben, warum dürfen dann bitte HG-Hersteller behaupten, dass ich mich mit ihrem Gerät bei Sturm auf hoher See entspannt unterhalten kann?!
Nach steiler Karriere in die Schwerhörigkeit und einseitige Taubheit nun Borg :p
jomo62
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Re: Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören

#5

Beitrag von jomo62 »

Immer wenn (selbst) die renommierte Presse etwas bringt, worin man selbst Fachmann ist, wird man feststellen, dass sehr viel nur oberflächlich recherchiert wurde. Man kann wahrscheinlich davon augehen, dass dies auch in anderen Bereichen zutreffend ist. Dort merkt man es nur nicht, weil man eben nicht so fachkundig ist.
Die Richtigkeit eines Artikels ist den Medien unterm Strich gänzlich egal. Hauptsache, die Auflage oder Einschaltquote stimmt.
Dies ist ein Grund, weshalb Dementis auch meist klein ganz hinten stehen. Dementis sind langweilig und interessieren keinen. "Bad News" dagegen verkaufen sich immer gut, auch wenn sie gar nicht stimmen.
Focus wird das also gar nicht interessieren, wenn einige Dinge korrigiert werden sollten.

jomo
Skunkdude
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Re: Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören

#6

Beitrag von Skunkdude »

Hallo zusammen,

glaube das Wesen dieses Artikels richtet sich nach dem Adressat. Soll heißen: viele These und Aussagen sind verallgemeinert und vereinfacht dargestellt. Es handelt sich eben nicht um eine wissenschaftliche Arbeit die bis ins Kleinste aufgearbeitet ist.

Ich behaupte mal dass jeder der sich hier im Forum anmeldet ein gewisses Interesse an Zusammenhängen und Details hat. Hier kann er zum Beispiel auch erwarten qualitativ gute Informationen zu erhalten. Das kann man vom Focus nicht immer :)

Grüße!
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